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Tag 112

Erstmals veröffentlichen wir die fotografische Reproduktion eines Notizzettels von Walter Benjamin, „Zu Dostojewski“. Die Aufzeichnung gehört zur Gruppe der Notizen um ein „Programm der literarischen Kritik“ aus dem Jahr 1929 (Gesammelte Schriften VI). Wir danken der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, der Akademie der Künste Berlin und dem Walter Benjamin Archiv.

 

200 und mehr Jahre Dostojewski. Unser aller Doppelgänger //

Er war nur einmal in Berlin: „Eine farblose Petersburger Kopie“. Der indirekte Einfluss war größer. Ohne E.T.A.-Hoffmann-Lektüre (die er im Original einnahm) hätte  Dostojewski seinen „Doppelgänger“ – auch „Die Abenteuer des Herrn Goljadkin“ – nicht geschrieben, nicht so. Ein nach Sankt Petersburg verlegter Berliner Verwaltungspowest, der in den Irrsinn führt, wohin sonst.

Dostojewski betritt die Stadt nicht als Flaneur, er erschreibt sie sich als Mann aus der Menge, der ein Labyrinth weniger von Straßen als von Menschen durchmisst, um an kein Ziel zu kommen.

 

Im „Doppelgänger“ ist die Stadt ist ein Passagenwerk, von Gefahren durchsetzt. In den Auslagen lauert der Teufel der Konsumtion in der verführerischsten Gestalt – an anderer Stelle als Krokodil. Das Labyrinth spinnt sich von den Arkaden des Gostiny Dwor am Newski Prospekt in den Büros der Stadt, den bürgerlichen Interieurs des auch in Sankt Petersburg „wohnsüchtigen 19. Jahrhunderts“ fort. In den Hinterhöfen, den Dachböden und Kellerlöchern der Elenden wird aus dem Labyrinth ein prämodernes auf Kafka zurasendes Schachtelwesen.

Dostojewski flaniert nicht, er durchschreibt die Stadt wie ein Messer. Figuren wie Goljadkin, wie Raskolnikow sind in die Metropole versetzte Woyzecks auf der Suche nach Bewusstsein. Sie hetzen durch die Stadt, die Stadt hetzt hinterher. Für Dostojewski ist die Stadt nur insofern ein Kulturraum, als sie Echokammer des ohnehin gebrochenen Bewusstseins ist. Auf dem freien (oder unfreien) Land operiert die Seele anders. Die Konflikte, sofern sie nicht „Besitz“ zur Grundlage haben, werden in Innenräumen, in Einrichtungen ausgetragen.

Wir können die technischen Hohlräume der Passagen als Entsprechung zum Hohlraum des modernen Menschen ansehen. Des Menschen, der seit Gottes Tod über den Spielplatz des Chaos, der der Erdball ist, mehr und weniger aufrecht taumelt. „Die Erde ist eine dünne Kruste … man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen“, meint der bürgerliche Herr in Büchners „Dantons Tod“ auf dem revolutionär durchbebten Trottoir von Paris. Die Ahnung der Leere, des Nichts, über die kein Gott und kein Teufel mehr hintrösten, ist das Movens des Absurden. Das Absurde ist die höchste Stufe des Realismus, bevor er ins Surreale kippt. Zum Surrealen gehört der Wahn.

Dostojewski reizt den Realismus aus, sein Figurenarsenal geht fortwährend durch den Wahn und spiegelt sich im Wahn gespiegelt, was seine Haltbarkeit erklären mag. Dostojewski schreibt sich aus seiner Zeit heraus in die folgenden Zeiten ein. „Mein Poem heißt ‚Der Großinquisitor‘ – es ist absurd, aber ich möchte es dir gern erzählen.“, kündigt Iwan Karamasow Bruder Aljoscha seine Phantasie an, die aus einem langen Monolog und einem Kuss besteht.

Für Ideologien war er, wie für repressive Gesellschaften, unbequem. Lenin wusste warum; Dostojewksijs „Dämonen“ waren seine eigenen. Das Buch nimmt Absurdität und Grausamkeit der vorrevolutionären Phase ebenso vorweg wie die Durchsetzung einer sozialistischen Doktrin auf der Basis von Terror. Brechts „Maßnahme“ ist das Satyrspiel zu den „Dämonen“.

Der Autor Dostojewski (der vom Philosophen und vom Gläubigen nicht zu trennen ist) insistiert auf dem Einzelnen und erkennt, dass der Einzelne nicht existiert. Der einzelne vertritt kein Kollektiv, er ist eins. Er besteht aus Ansichten, Haltungen und Meinungen, Stimmungen. Die Masse zählt nicht, sie bleibt dunkel. „Träumende Kollektive“, wie Benjamin das nennt. Träumend in „noch nicht bewusstem Wissen“. Man kommt der Masse bei, indem man den Einzelnen herausleuchtet aus ihr. Daher die Schattierungen, die harten Schwarzweiß-Gefälle bei Dostojewski. Wie im Film, wie im Krankensaal. Wie im Traum.

Rodion Raskolnikow, Student, der sich für Napoleon hält, erliegt dem mörderischen Einfluss westlicher Ideen. Absolution erhält der abgebrochene Jurist nicht vor Gericht, erhält er von der Hure, die arm ist, die fromm ist, die wie eine Mutter für ihn sorgt. Der Mörder und die Hure, die Kerze und die Bibel, der Terror und der Kitsch.

Den Fall neu interpretiert hat ein Historiker aus St. Petersburg. Der auf Napoleon Bonaparte spezialisierte Professor, Oleg Sokolow, erschlägt seine Geliebte, Studentin, zerlegt sie in Teile, die er in der Stadt durchquerenden Moika versenkt. Polizisten finden ihn, betrunken, im Wasser watend beim Versuch, die Müllsäcke mit den Leichenteilen unter Wasser zu halten – ein ungeschriebenes Dostojewskikapitel.

Sich als Napoleon oder Gott zu imaginieren, diskutieren die Karamasowbrüder: „Gott ist tot und alles ist erlaubt“. Die Plusminusnull-Konsequenz ist, dass einen Menschen töten dasselbe ist wie einen Menschen schaffen. Als Ausblick auf das nach Dostojewski kommende Jahrhundert, das zwischen ihm und uns liegende, korrekt.

Wo Klone produziert werden können, können Menschen abgeschafft werden und die Zukunft ist humanoid. Sie ist das Problem der Freiheit, die Christus den Menschen gab und die der Genosse Großinquisitor weitsichtig einbehält. Besser ein paar hundert Ketzer schlachten, als die Menschheit sich überlassen. Besser einen ans Kreuz nageln für alle, als dass sich alle unterm Kreuz abschlachten.

1929 notiert Benjamin einen Absatz „Zu Dostojewski“ in seinen Block. Im Jahr, in dem Literatur, Film, Photographie, Rundfunk neuartige Symbiosen eingehen (für den Film vom Stumm- zum Ton- noch innerhalb der Gattung, dazu Fernsehn das neue Medium) fixiert Benjamin seine Beobachtung zum literarischen Seelenvermesser aus Russland und tippt mit der Fingerkuppe auf das Wesentliche Dostojewskis:

„Keiner hat wie er auch in dem gemeinsten Tun, und gerade in ihm, die Inspiration gesehen. […] Sein Gott hat nicht nur Himmel und Erde und Mensch und Tier geschaffen, sondern auch die Gemeinheit, die Rache, die Grausamkeit.“

Dostojewski hat diesen seinen Gott geschaffen, den er durch die Romane wie die Sau durch alle Dörfer treibt; Gott, das zeigen die IHN umkreisenden Dialoge, hat als Medium ausgedient, Gott diffundiert im Denken. Gottes Macht vollstreckt sich in seiner Abwesenheit, in effigie. Nur so kann sie rational begriffen werden. Nur so weit reicht die Theodizee.

„Nicht zu existieren“, sagt Marcus Steinweg „ist die Existenzform der Gott genannten Inexistenz“. Der Satz ist ein Baustein des Dostojewski-Mythos‘.

Am 20. November 1943 notiert Ernst Jünger eine Beobachtung von Walter Schubart, Jurist aus Jena, Philosoph in Riga; Jünger sieht, verkürzt und kolportiert, ein Triptychon, „auf dem der große Täter vom bösen und vom guten Schächer umflügelt wird.“ Tatsächlich schreibt Schubart: „Das 19. Jahrhundert hat sich drei Kolossal-Figuren errichtet. Napoleon, Nietzsche, Dostojewski. Napoleon – der Caesar in gottgleicher Höhe. Nietzsche, der Christus suchte und nur bis zu Caesar kam, und Dostojewski, der das Caesarische überwand und zu Christus gelangte.“

Als Hauptmann Jünger, Nietzsche- und Dostojewski-Verehrer gleichermaßen, Schubarts Buch im Hôtel Raphael im besetzten Paris las, war der Autor tot seit mehr als einem Jahr, gestorben im Gulag in Kasachstan.

Die Hoffnung, dass (nach Lukas 8,32) die Teufel aus den Menschen in die Säue fahren, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Möglich dass die einen von den andern nicht zu trennen sind, die Teufel von den Menschen nicht, die nicht von den Säuen: das Schwein der Mensch, die Krone der Schöpfung. Auch Gott könnte daran verzweifeln, angenommen, er hat „Die Dämonen“ gelesen. Dostojewski lesen bedeutet ja immer auch autodestruktive Kontemplation.

„Und sie alle“ – Gemeinheit, Rache Grausamkeit, sagt Benjamin – „sind bei ihm ganz ursprünglich, vielleicht nicht ‚herrlich‘ aber ‚ewig neu‘ wie am ersten Tage und himmelweit entfernt von den Klischees, in denen dem Philister die ‚Sünde‘ erscheint.“ Ewig neu wie nur der Zweifel sein kann, der die Grundlage ist für jeden Dialog – mit Gott, mit uns selbst.

Dostojewskis Gott war nicht der Glaube, sein Gott war der Zweifel, der den negativen Tugenden zuzurechnen ist. Seine Revolution ging nicht von unten, nicht von oben, sie ging vom Jenseits aus. Jünger, trocken: „Die Bolschewiken rechnen Dostojewski nicht zu den Ihrigen.“

Dostojewski, der erste Absurde. In der Erzählung „Das Krokodil“ trifft er auf Benjamin, auf Panorama, Panoptikum, Passage. Das aus dem Westen importierte Tier als Allegorie des Problems bis heute. Wer sich mit Europa einlässt, wird verschlungen. Eine Notiz aus Dostojewskis Nachlass schlägt die Brücke zu Benjamin: „Eine Passage in der Passage, die darin besteht, dass ein gewisser, ehrwürdiger Herr von einem Passagenkrokodil bei lebendigem Leib verschlungen wurde und was daraus folgte.“

Bei Benjamin ist der bürgerliche Protagonist der Mensch im Futteral. Bei Dostojewski der Mensch im Krokodil. Sein „Gehäusewesen“ ist der sich im Innern der Echse ansiedelnde Iwan Matwejewitsch, der Mensch, vor dem zu warnen ist. Er weiß, wie es im Innern des Krokodils aussieht: völlige Leere. Gummi. Ein Exportartikel von drüben.

Bei Tschechow ist „Der Mensch im Futteral“ der Lehrer, Beamter, verpackt in Galoschen, Schirm, Mütze, Mantel, Mantelkragen, Regelwerk. Die Karikatur des bürgerlichen Beamten. Die Revolution, die ab 1917 mit Marx‘ Ziel durchs Land fegte, „alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, zu zerschlagen, Regelwerk und Futteral zu zerschlagen und den neuen Menschen zu erschaffen, etablierte statt dessen Regelwerk und Futteral nach dem zum Kaderprinzip pervertierten Gleichheitsprinzip, schuf den Terror der Bürokratie und die DNA der Spezies Homo sovieticus. Eine Figur, angelegt bei Dostojewski und Tschechow.

«Крокодил» ist der Titel der 1922 gegründeten Satirezeitschrift der Sowjetunion, härtestes Organ für den Witz im Dienst des Klassenkampfs, mit der Lizenz zum Töten.

Michail Bachtin erkennt Dostojewski als Schöpfer der Polyphonie in der Prosa. Die Polyphonien haben musikalische Strukturen, die Handlung schwingt auf ihnen. Die Komplexe, die Dostojewskis Figuren aufwerfen, klingen, wo immer ein Buchdeckel der „Brüder Karamasow“ zuklappt, nach.

Dostojewski interessiert sich für die Maßlosigkeit der Seele. Er interessiert sich für die alles überspannende und die überspannte. Den Zusammenhang erschreibt er, schreibt ihn aus und geht ins Maßlose damit. Maßlosigkeit, Wucht und Unwucht treiben ihn, der seine Bücher vom „Spieler“ an aus der Bewegung heraus diktiert, in den Rausch. Und wie wir ihn lesen, werden wir schwerelos in seiner Raumzeit mit ihm.

Alexander Kluge im „Russland-Kontainer“ trifft mit der Frage: „Kann ein Gemeinwesen ICH sagen?“ ins Ziel. Das russische kann. Es fragt nicht, warum. Dostojewski nennt es „die Karamasowsche Kraft“, ein kollektives Ich, das mit europäischen, mit deutschen, ostdeutschen, westdeutschen oder transkontinentalen Maßen nicht zu messen ist.

„Gibt es keine Unsterblichkeit der Seele, so gibt es auch keine Tugend, also ist alles erlaubt.“ Ohne Dostojewski kein Russland.

Illustrationen «Крокодил» – Horst Hussel, 2011

Für eine Neuübersetzung von Fjodor Dostojewskis satirischer Erzählung „Das Krokodil“ – die inklusive dazugehöriger Notizen und Fragmente 2012 unter dem Titel „Der Krokodilkomplex bei Dostojewski“ als erste Ausgabe der „Volksbücherei“ der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz erscheinen sollte – zeichnete Horst Hussel elf Blätter. Eine Auswahl veröffentlichen wir hier zum ersten mal.

 

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