
Wie in jedem totalitären Staat ist auch in Russland das Absurde, das Unfassbare, zu einem Bestandteil des Alltags geworden, zum alltäglichen Hintergrund, der durch den Bruch logischer und kausaler Zusammenhänge entstanden ist. Die Verzerrung der Sprache, die in Fragmente zerfallende Realität, die dann in willkürlicher Reihenfolge wieder zusammengesetzt wird, das endlose Vor- und Zurückwandern auf der Spirale der Geschichte, wobei es häufiger zurück als vorwärts geht – all dies sind Merkmale der neuen russischen Realität. Die Nachrichten des vergangenen Monats unterstreichen nur die Tiefe des Zerfalls der russischen Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur.
Anfang Juli trat in St. Petersburg vor dem Start des Marathonlaufs „Weiße Nächte“, zu einer Zeit, als am Flughafen Pulkowo alle Flüge wegen ukrainischer Drohnenangriffe gestrichen wurden, ein beinloser „Held der speziellen Militäroperation“ auf und erklärte: „Wir haben dafür gekämpft, dass ihr unter dem friedlichen Juli-Himmel laufen könnt.“ Bezeichnenderweise war der Himmel über Sankt Petersburg völlig friedlich, bevor diese Helden zu kämpfen begannen.
In Kamtschatka wurde das mobile Internet abgeschaltet, um sich vor „möglichen Bedrohungen durch Drohnen“ zu schützen. Die Region liegt etwa 7500 km von der Ukraine entfernt. Ein solches Kompliment haben die Entwickler ukrainischer Drohnen noch von niemandem erhalten.
In Woronesch wurde das Luftalarm-System in Trinkwasserautomaten auf der Straße eingebaut. Im Falle eines Angriffs der ukrainischen Streitkräfte ertönt aus den Automaten eine Sirene und auf einem eigens integrierten Bildschirm erscheint die Laufschrift „Achtung, an alle!“. Sehr praktisch – man kann das optische Beruhigungsmittel gleich mit dem Wasser hinunterspülen.
Das Unternehmen „Gazprom Neft“ hat eine Strafe von 100.000 Rubel für den Versuch eingeführt, ein Mobiltelefon in seine Raffinerien zu schmuggeln. Außerdem sind nun alle Geräte mit GPS verboten: Smartphones, Navigationsgeräte und sogar Autos mit Geolokalisierung. Zuvor wurde bekannt, dass den Mitarbeitern des Transportfahrzeuge und Panzer produzierenden „KamAZ“-Werks verboten wurde, Essen mitzubringen. Die Gründe sind in beiden Fällen dieselben: Sicherheit. All dies kann man wohl als Zwischenbilanz der sogenannten SVO, auf Russisch das Kürzel für den immer noch Militärische Spezialoperation benannten Krieg gegen die Ukraine.
Die Praxis der Normalisierung von Repressionen führt ebenfalls zu irrationalen Initiativen. So fand im Zentrum von Irkutsk ein städtisches Quiz „Wer hat den Nachbarn umgebracht?“ statt, organisiert vom regionalen Ermittlungskomitee. Die Handlung: Passanten finden auf der Straße die Leiche eines unbekannten Mannes, und die Spieler untersuchen als Ermittlungsgruppe den „Tatort“, sammeln Beweise, verhören Verdächtige und führen Durchsuchungen durch.

Als weitere Steigerungsform zeigt sich darin, dass die Repressionen selbst anekdotischen Charakter annehmen. In der Region Leningrad verhaftete ein Gericht einen Abgeordneten der Kommunistischen Partei aus dem lokalen gesetzgebenden Versammlung Apostolewskij für sieben Tage, weil er das Cover der bereits eingestellten Zeitschrift „Fonar“ der Kommunistischen Partei aus dem Jahr 2017 geteilt hatte. Darauf war ein Foto von der Festnahme von Alexej Nawalny und ein Zitat von Lenin zu sehen: „Die Prostituierten des bürgerlichen Liberalismus versuchen, sich mit dem Mantel der Revolution zu schmücken.“ Der Abgeordnete wurde wegen des Fotos von Nawalny des Extremismus beschuldigt.
Die Probleme der Bevölkerung werden von den Behörden entweder durch Verbote gelöst, wie beispielsweise nach massiven Beschwerden der Russen über Störungen der Internetverbindung, als Roskomnadzor den Speedtest zur Überprüfung der Übertragungsqualität sperrte. Oder mit Drohungen, wie im Krasnojarsker Gebiet, wo die Einwohner, besorgt darüber, dass sie aufgrund der ständigen Internetausfälle ihre Arbeit verlieren könnten, den lokalen Gouverneur fragten, was sie in dieser Situation tun sollten. Sie erhielten die Antwort der lokalen Beamtin Ekaterina Kuzmynich: „Bei der SVO gibt es genug Arbeit für alle.“
Oder man versucht der besorgten Öffentlichkeit zu erklären, dass diese Probleme nur zum Wohl der russischen Bürger gemacht sind, wie der Gouverneur der Region Nischni Nowgorod erklärte, der um „Verständnis“ für die regelmäßigen Abschaltungen des mobilen Internets bat und dies als eine Art „Entgiftung“ bezeichnete. Der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Industrie, Wladimir Gutenew, meinte dagegen, dass sich die Russen an die neue Realität mit regelmäßigen Abschaltungen des mobilen Internets anpassen und sich mit Bargeld eindecken müssten, da diese Zahlungsmethode nun wieder Vorrang vor allen anderen haben werde.
Auch diejenigen, die russische Flughäfen nutzen, müssen sich auf Unannehmlichkeiten einstellen. Im vergangenen Monat mussten Menschen aufgrund von Angriffen ukrainischer Drohnen mehrere Tage auf ihre Flüge warten. Als Reaktion darauf schlug Präsident Putin vor, größere Flughäfen zu bauen, damit mehr Menschen Platz finden.

Völlig abscheuliche Vorschläge tauchen im Raum der neuen Ideologie auf, zum Beispiel erklärte Wladimir Pinajew, Mitglied der Arbeitsgruppe zur Stärkung traditioneller Werte beim Ministerium für Naturressourcen der Russischen Föderation (allein schon der Titel!), dass die Russen auf Geschäfte verzichten und zur bäuerlichen Wirtschaft übergehen sollten. Seiner Meinung nach sollten die Bürger „sich ein Beispiel an ihren Vorfahren nehmen”, um sich von Giftstoffen zu reinigen. Pinajew erläuterte seine Idee anhand eines Schafes: „Man muss nicht nach Moskau fahren, um Wurst zu kaufen. Da weidet ein Schaf, bitte, esst sein Fleisch. Zieht ihm die Haut ab – bitte, hier ist eine Mütze. Aus mehreren Häuten kann man einen Pelzmantel machen. So haben die Bauern früher gelebt, alles war schon vor uns erfunden. Schaut euch eure Geschichte an, dann wird euch alles klar.“
Die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, schlug vor, einen internationalen Tag zur Bekämpfung der Russophobie einzuführen, weil dies „Millionen von Menschen“ nötig hätten. Daraufhin erschien auf der offiziellen Website des russischen Außenministeriums eine neue Rubrik mit „Beispielen für Russophobie“ von Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus anderen Ländern. Als „Beispiel“ dient ein Zitat des tschechischen Außenministers Jan Lipavský im sozialen Netzwerk X vom 5. Januar 2025: „Der Diktator Putin erkennt Selenskyj nicht als Präsidenten, die Ukrainer nicht als Nation und die Ukraine nicht als Staat an.“
Nicht nur Rückschritt, sondern auch Fortschritt wird von solchen Ideen gesteuert, so dass Russland und Belarus ihre eigene nationale künstliche Intelligenz auf Basis „traditioneller Werte“ entwickeln werden. Dann nämlich würden junge Menschen sofort aufhören, das amerikanische Chat GPT und das chinesische DeepSeek zu nutzen, wo ihr Bewusstsein „manipuliert” werde, ist der Staatssekretär der Union, Sergej Glazjew (ein weiteres einzigartiges Amt), überzeugt.
Moskauer Unternehmen haben Parfums mit Düften der „technologischen Souveränität“ und des „russischen Alltagslebens“ kreiert. Dies teilte die Pressestelle des Moskauer Ministeriums für Investitions- und Industriepolitik mit. Der Duft der technologischen Souveränität wurde von der Marke VDOHNI (Atme ein!) in Zusammenarbeit mit der Russischen Chemisch-Technologischen Universität „D. I. Mendelejew“ und dem Computerhersteller „Inferit OS“ (Softline-Gruppe) kreiert. Er soll den Geruch von kaltem Metall und die „Präzision von Algorithmen“ vermitteln. Die Komposition enthalte sowohl klassische als auch synthetische Noten, was eine einen Effekt „digitalen Atmens“ erzeuge. Konsumenten dürften kaum je gespannter auf ein neues Odeur gewesen sein. Übrigens sind seit letztem Monat auf Marktplätzen Kerzen mit dem Duft von Putin erhältlich.

Die wirtschaftliche Lage spiegelt sich in solch ausgeklügelten Wortkonstruktionen wider wie „kompakte Getreideernte” anstelle von Missernte oder „geplante Abkühlung” anstelle von Rezession. Und das Einkommensniveau der lokalen Bevölkerung spiegelt sich in recht unerwarteten Initiativen wider. An Bord der Fluggesellschaft Pobeda („Sieg“) werden Mikrokredite vergeben. In den sozialen Netzwerken fragen die Menschen bereits, ob sich dies irgendwie vermeiden lässt oder ob es ohnehin, sozusagen zwangsweise passieren wird.
Das Interessanteste passiert natürlich in der russischen Regierung. In seiner Abschlussrede zum Ende der Parlamentssitzung legte der Sprecher der Staatsduma, Wladimir Wolodin, die Grundzüge des von der Regierung erfundenen Weltbildes dar. Er erklärte, dass „Russland ein freies demokratisches Land“ sei und dass der Krieg in der Ukraine, also die Spezialoperation, „zum Wohl des ukrainischen Volkes und des Landes, das uns nahesteht“, geführt werde.
Er sagte auch, dass die Grundlage der nationalen Identität der Russen „die Sprache, die Kultur und der Glaube“ seien und dass „ein Volk, das seine Identität verliert, auch seine Staatlichkeit verliert“, wobei er jedoch zu erwähnen vergaß, dass in der Russischen Föderation mehr als 190 verschiedene Völker mit ihren eigenen Sprachen, Religionen und Kulturen leben.
Wolodin merkte auch an, dass derzeit „viele Prozesse objektiver wahrgenommen werden als früher“, so verstehe die Staatsduma beispielsweise nun, dass der Zerfall der UdSSR eine „Tragödie“ sei, und die Kommunistische Partei Russlands habe ihrerseits „ihre Haltung zu Stalin und dem XX. Parteitag überdenken“ können. Außerdem sagte er, dass „die Geburtenrate eine Frage der Zukunft des Landes ist. Wir müssen verantwortungsbewusst damit umgehen.“ Abschließend schlug er den Abgeordneten vor, sich für dieses Ziel zusammenzuschließen. Nebenbei bemerkt geht im Land die Legende um, dass Wolodin homosexuell sein, was ihn im Ernstfall als Extremisten ausweisen würde.
Wer glaubt, dass sich nach dem Tod eines Diktators alles ändern wird, irrt sich. In diesem System zeichnet sich alles durch eine besondere Widerstandsfähigkeit aus. So hat der Abgeordnete der Staatsduma Michail Tarasenko postum für elf Gesetzesentwürfe „gestimmt“. Seine Stimmen wurden bei der Sitzung am 22. Juli gezählt, und auf derselben Sitzung wurde sein Tod bekannt gegeben. Man sagt, dass ein Huhn ohne Kopf bis zu 20 Minuten laufen kann. Ein Abgeordneter sogar einen ganzen Tag. Und das System – wer weiß, womöglich noch Jahrzehnte lang.