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Replik

Unter dem Titel „Postsowjetisches Gerede“ erklärt Oleksandr Mykhed, warum er als ukrainischer Schriftsteller eine Einladung nach Berlin auf ein Podium mit „guten Russen“ ablehnt. Seine Übersetzerin Claudia Dathe ergänzt unter dem Titel „Die Feindschaft geht auf dem Podium weiter“. Die Antwort des einladenden Veranstalters aus Berlin.

Die Idee, ukrainische, belarussische und russische Autoren und Aktivisten zu einem Podium in Berlin einzuladen, ist eine Idee vom Februar 2022. Nichts schien dringender, als die Kreativen aus den drei unmittelbar betroffenen Ländern zusammenzubringen, um der Diktatur in Moskau, die der Auslöser dieses Kriegs seit neun Jahren ist, etwas entgegenzusetzen, und sei es vorerst nur die Analyse. Denn der Grund für den Krieg, der sich als Begriff erst mit der Großinvasion vom letzten Jahr für die bis dahin als „Konflikt“ gehandelte Auseinandersetzung etabliert hat, ist für alle derselbe: Putins Diktatur.

Die Idee war offensichtlich naiv. Ich bin kein Pazifist, kein Friedenstifter, und hatte es bislang nicht nötig, Patriot sein zu müssen. Meine Herkunft aus dem kleineren Deutschland, das für 40 Jahre auch eine Republik im „sozialistischen Imperium“ war, lässt mich vaterländischen Gefühlen misstrauen.

Um von meiner „Veranstalterperspektive“ zu reden – sie war auf kein „facettenreiches Erfahrungspanorama“ gerichtet. Ich habe kein Interesse an „Ukrainern als Staffage“, wie Nikolai Klimeniouk in dieser Zeitung schrieb. Und ich weiß nicht, was sogenannte gute Russen sein sollen; immerhin weiß ich, wer die schlechten sind. Sie sind an der Macht im Staat und kujonieren die Bevölkerung. Nichts hat verheerendere Auswirkungen auf die russische Kultur, Wissenschaft und Forschung, auf die Ethik des Gesamtgesellschaftlichen. Sie führen Krieg gegen andere Völker und Nationen. Sie sind es, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssen, von innen und von außen.

Das schienen ausreichend Gründe zu sein, die Kräfte derer, die unter der Diktatur und unter dem Krieg leiden, zu bündeln. Auch die engagierte deutsche Öffentlichkeit hat ein Interesse an den Gründen; die nicht engagierte könnte man immerhin für sich gewinnen.

Auch wenn man die Differenz zwischen zwei Erfahrungen nicht diskutieren kann, man kann sie beschreiben. Wofür sonst wären Schriftsteller da? Wer sonst könnte erklären, „was das Inferno einer Großinvasion und von den Besatzern in Schutt und Asche gelegter Städte ist“, was die die Folgen für die Überlebenden, ihre Wirklichkeit und ihre Reflexion sind.

Autoren seit Homer und Tacitus haben es getan. Yevgenia Belorusets und Andrei Kurkow tun es, die Autoren in Katja Mishchenkos Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“ tun es. Swetlana Alexijewitsch aus Minsk, jetzt im Exil in Berlin, tut es. Warum, den Dialog mit ihr ausschlagen? Masha Gessen aus Moskau, jetzt in New York, tut es. Schenja Berkowitsch, jetzt in Moskau in Haft, hat es getan. Erzählen ist Arbeit an der Differenz, Erzählen ist Kultur. Die Rede von der „russländischen“ als Kultur eines Staates reduziert sie auf eine ausschließlich im Dienst der Macht existierende Kultur, auf Propaganda.

Mir wurde vorgeworfen, die Ukraine als Demokratie nicht ernstzunehmen, weil die Einladung sich an die „oppositionellen, vor Diktatur und Krieg geflohenen Kräfte im Ausland“ richte. Opposition in der Ukraine sei „Teil der politischen und gesellschaftlichen Normalität“. Ich war wenig überrascht, das zu hören. Überraschend dagegen der Hinweis, „so tragisch die Situationen in der Ukraine, in Russland und Belarus auch sein mögen, so unterschiedlich sind sie im Kern.“ Die Tatsache, dass es jahrhundertetief in der Geschichte der Rus einen gemeinsamen Kern, eine verschlungene Geschichte gibt, macht einen Großteil der Komplikationen aus und ist ein weiterer Grund, warum geredet werden sollte.

Es ist unabdingbar zu verstehen, wie komplex die Verflechtungen mit Russland sind, die in 32 Jahren Unabhängigkeit der Ukraine noch immer wirken. Beides Grund genug für Putin, die Unabhängigkeit rückgängig machen zu wollen und die Verflechtungen auf die Propaganda von der „historischen Einheit der Russen und Ukrainer“ zu reduzieren –die aktuelle Voraussetzung für den russischen Faschismus. Ein Kongress der im Exil befindlichen Kräfte, um gemeinsam gegen die Diktatur in Moskau vorzugehen, wäre ein brauchbares Argument gegen die hiesigen Pazifisten und ihre Manifeste.

Wenn wir die Kräfte des Widerstands in Russland nicht erreichen, ist es angebracht, die Kräfte in der Emigration zusammenzuhalten. Es scheint wirklich nötig zu sein, unablässig darauf hinzuweisen, dass auch Russen in Russland protestieren und gegen das Terrorregime im Land kämpfen. Es ist nötig, unablässig daran zu erinnern, dass in Russland und in Belarus, jeder der sich den Behörden widersetzt, wie selbstverständlich gedemütigt, geschlagen, gefoltert wird. Um so mehr ein Grund, mit jedem, der bei Gefahr des Lebens sein Land verlassen konnte, zu reden.

Nicht alle, die ihr Land verlassen können, wollen es auch. Die wenigsten aus der Fraktion des Widerstands haben den Mut zu bleiben. Wer übernimmt schon gern den Opferstatus bei Gefahr für das eigene Leben. Alexej Nawalnyj, Wladimir Kara-Mursa, Dmitri Muratow, Oleg Orlow. Wenn man es nicht mehr erträgt, man kann sich verbrennen, wie Irina Slawina es tat. Hätte man auch ihr den Dialog verweigern sollen?

Die Zusammengeschlagenen, Gefolterten, Vergewaltigten, ja, sie haben nicht auf dem Schlachtfeld gekämpft, sind nicht von Bomben zerrissen worden, sie leben. Die Journalisten, die Autoren, die Künstler, die Angestellten, die auf die Straße gingen, die von der Propaganda verunglimpften „ausländischen Agenten“, die wie Maria Kolesnikowa in den Lagern in Belarus einsitzenden politischen Gefangenen, die Leute von Memorial – nicht mit ihnen reden, weil sie die „russländische Kultur“ verkörpern? Wo soll hier das Ausschlusskriterium sein und wozu wird es gebraucht? Weil das trojanische Pferd der russländischen Kultur wiehert?

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass ein Dialog zwischen ukrainischen, russischen und belarussischen Kulturleuten erst dann stattfinden kann, „wenn die imperiale russische Perspektive ganz dekonstruiert“ sein wird. Im Gegenteil sollte eine Veranstaltung wie unsere zur Dekonstruktion beitragen. Wozu warten, bis der Krieg das erledigt? Etwa zwei Dutzend Einladungen zu „Dialog im Krieg – Krieg im Dialog“ habe ich an ukrainische Intellektuelle verschickt und ebenso viele Absagen erhalten. Nach und nach jedoch entwickelte sich ein Austausch wechselseitiger Erläuterungen mit dem Ergebnis, den geplanten einen Dialog in mehrere, nach Nationalitäten getrennt, aufzuteilen. Die erste Veranstaltung – Ukrainer – hat am 9. Mai stattgefunden. Die kommende – Russen – bringt einen Verleger und Vertreter zweier NGOs zusammen. Sie sprechen über Netzwerke für den Widerstand“.

Die Erwartung, dass der Dialog im Idealfall zu einer Strategie führt, die das Potential der kreativen Kräfte gegen Putin eint, mag hochgegriffen sein. Denn wie könnte diese Strategie funktionieren? Was können Intellektuelle aus der Ukraine, Belarus und Russland tun, falls sie sich zusammenschließen?

Heute vor 88 Jahren fand in Paris der „Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ statt. Organisiert von Ilja Ehrenburg, André Malraux, André Gide, Jean-Richard Bloch und Paul Nizan, nahmen Tristan Tzara, Louis Aragon, Aldous Huxley, Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Ernst Toller, Anna Seghers, André Breton, Johannes R. Becher, Robert Musil, Egon Erwin Kisch und andere an ihm teil. Brecht griff das Thema der politischen Erziehung auf und stellte die Frage: „Gibt es kein Mittel, den Menschen zu hindern, sich abzuwenden von den Greueln? Warum wendet er sich ab? Er wendet sich ab, weil er keine Möglichkeit des Eingreifens sieht.“ Wir wollen solche Möglichkeiten diskutieren.

Der Kongress konnte den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern. Kein Petersburger und sonst kein Dialog konnte die Annexion der Krim, den Krieg im Donbass und den Überfall vom 24. Februar 2022 verhindern. Wozu dann überhaupt noch reden? Weil wir unsre Differenzen formulieren müssen, um sie überwinden zu können.

In Swetlana Alexejewitschs Gesprächroman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ berichtet am Ende ihres Lebens eine Frau über ihre Zeit als Partisan in den weißrussischen Wäldern: „Im Krieg musst du schießen, wenn du ein Mensch bleiben willst.“ Das ist die Antwort für jeden Angegriffenen, seiner Freiheit Beraubten. Es wäre die Antwort auch für Russen und Belarussen, die ihren Regimes derzeit nur mit Gewalt die Macht nehmen können. Die Problematik und die Folgen eines solchen, sagen wir Aufstands, sind absehbar. „Was tun?“, das klassische Dilemma der Russen, erfährt neue erschreckende gesellschaftspolitische Relevanz.

Nur die Kultur, die es ja auch in der Version von Unkultur gibt, kann eine Gesellschaft der Gewalt wie die russländische bezwingen. Menschen in totalitären Systemen werden als Opfer geboren, zu Tätern erzogen, ohne dass sie es merken, weil die Bildung, weil die Kultur, die an der Kette liegt, versagt. Die als imperial geschmähten Dostojewski, Tolstoi, Puschkin und Bulgakow stehen auf brüchigen Denkmälern – aber können wir überhaupt Kultur nennen, was die Gewalt dieses Krieges in der Ukraine hervorgebracht hat?

Abgesehen von all dem sollte den Deutschen, die mit oder ohne Migrationshintergrund zivilgesellschaftlich tätig sind, ein Dialog nicht verweigert werden. Die meisten führen ihn ohnehin auf der persönlichen Ebene, andere öffentlich über die Medien. Auch das ein Grund, die verschiedenen Mikrodiakoge zu bündeln, um zu verstehen, warum es zu keiner Bündelung der Kräfte im Exil kommt, zu keiner gemeinsamen Aktion und nicht einmal zum Dialog.

Ein Podium, wie wir es unter dem Titel „Dialog im Krieg – Krieg im Dialog“ ausrichten, führt nicht den „Imaginationsraum des Postsowjetischen“ fort und verstellt nicht den Blick für „Individualisierungs- und Herauslösungsprozesse“ ehemaliger Sowjetrepubliken – im Gegenteil diskutieren wir diese Prozesse. Es scheint sinnvoller, das gemeinsam zu tun, weil sie eben nicht nur die Ukrainer angehen, die in diesen Prozessen am weitesten gekommen sind. Kultur ist Erzählung und Erzählung ist Dialog.

Der Vorwurf der Retraumatisierung durch „Attribute nationaler Zugehörigkeit, in der die Erfahrung jahrhundertelanger Expansion und Unterdrückung … aktiviert wird“ kann dadurch entkräftet werden, dass auch die Beteiligten aus Russland und aus Belarus an ihren Traumata arbeiten, wenn sie sich dem Dialog aussetzen. Ohne derartige Belastung ist weder der Kampf gegen die Besatzungsmacht noch gegen die Diktatur zu haben. Die Ukraine kämpft für demokratische Werte. Demokratie bedeutet gleiche Rechte für alle, unabhängig davon, wo sie geboren sind oder welche Sprache sie sprechen. Es bedeutet, niemanden auszuschließen, der sich für diese Werte einsetzt.

Konträr zur Behauptung, wir würden mit unserem Dialog „das Sprechen, wie es in Friedenszeiten möglich war, unreflektiert fortsetzen, das Erleben des Krieges domestizieren“, interessiert uns: Wer beendet diesen Krieg? Und davon nicht zu lösen die Frage: Wie gehen wir in Zukunft miteinander um? Die Strategien für Koexistenz und Kooperation auf dem Gebiet der Kultur müssen, wo sie nicht bewahrt werden konnten, wieder aufgebaut werden. Anders ist ein Zusammenleben, mit oder ohne Grenzen, nicht möglich.

Oleksandr Mykhed teilt mit, es gäbe keine Themen mit Vertretern der russischen und belarussischen Seite – „Russland ist schuld an den Gräueltaten, die auf unserem Boden geschehen, und Belarus kollaboriert“. Auch wenn es problematisch scheint, das so komprimiert zu begründen, bleibt noch das Thema des übergreifenden familiären Zusammenhangs. Die Hälfte der fast 40 Millionen Ukrainer hat über mindestens einen Verwandten nach Russland reichende Verflechtungen, sagt eine Statistik des ukrainischen Sozialforschungsinstituts Gradus Research vom Mai diesen Jahres.

Wo wir über Zukunft und Verwandtschaft reden, müssen wir von unseren Kindern sprechen. Mein Sohn, geboren auf der Insel Sachalin vor acht Jahren, geht mit deutschen, ukrainischen, belarussischen, russischen, syrischen, türkischen, irakischen, libyschen, ghanaischen, vietnamesischen Kindern in die Schule, sie treffen sich auf Spielplätzen, besuchen einander bei ihren Familien. Viele dieser Kinder werden hier bleiben und Teil der Gesellschaft werden. Nichts hat größere Bedeutung als dass sie nicht die Konflikte früherer Generationen fortsetzen, dass sie lernen, miteinander umzugehen, in einer Kultur gegenseitigen Respekts aufwachsen und die Chance bekommen, eine solche Kultur auch zu gestalten.

Thomas Martin