
In St. Petersburg fand letzte Woche ein internationales Wirtschaftsforum statt. Internationalität wurde durch die Taliban sowie Teilnehmer aus Asien, Afrika und Lateinamerika gewährleistet: Indonesien, Bolivien, Südafrika, Simbabwe, Kasachstan, Iran und die Türkei. Von der Wirtschaft war nur der Name geblieben.
Dieses Jahr widmet sich das Forum dem Thema „Gemeinsame Werte – Grundlage für Wachstum in einer multipolaren Welt“. Einen Tag bevor es losging, wurde in St. Petersburg vorsichtshalber das Internet abgeschaltet. Das heißt, die Einwohner der russischen Nordmetropole können, während die Vertreter der Staatsmacht über das beispiellose Wirtschaftswachstum diskutierten, keine Geldautomaten benutzen, nicht mit der Karte bezahlen und keine Online-Dienste in Anspruch nehmen. Übrigens war der Russische Staatszirkus zum ersten Mal Partner des Forums. Bedauerlich, dass er sich nicht schon früher angeschlossen hat, vieles hätte sich mit Verweis auf diesen Partner erklären lassen.
Die Regionen haben für die Teilnahme an dieser Attraktion mehrere hundert Millionen Rubel ausgegeben. Für die Eintrittskarte pro Person musste man am Ende 1,3 Millionen Rubel bezahlen, was in etwa 13.000 Euro entspricht. Auch die Stände waren nicht billig. So hat beispielsweise St. Petersburg laut Angaben des unabhängigen Online-Mediums „Kein Moskau“ 108,2 Millionen Rubel bezahlt, die Region Krasnodar 100,4 Millionen Rubel.
Die Einwohner der Regionen können die Teilnahme ihrer jeweiligen Vertreter an solchen Veranstaltungen nicht immer richtig einschätzen. Während der Gouverneur der Region Tomsk, Wladimir Masur, in den sozialen Netzwerken damit prahlte, dass er auf dem Forum den Chef der sogenannten Donetsker Volksrepublik, Denis Puschilin, getroffen und sogar zu einem Besuch eingeladen habe, veröffentlichten Einwohner der Region Tomsk als Kommentar zu dieser Meldung ein Video von einer Straße im Bezirk Kolpaschowski, die weder befahrbar noch begehbar ist und zur Anlegestelle der Fähre führt, die über den Ob die beiden Teile des Bezirks verbindet.
Igor Kobsew, Gouverneur der Region Irkutsk, hat vor, mehr als 20 Vereinbarungen zu schließen, darunter auch Investitionsverträge. Die Einwohner von Irkutsk sind jedoch mehr darüber besorgt, dass das Stadion „Aviator“ für Kinder geschlossen ist, dass die Spielplätze in der Marschall-Konew-Straße nicht renoviert werden und dass niemand nach den vermissten Kriegsteilnehmern in der Ukraine sucht.
Der Gouverneur von Rjasan, Pawel Malkow, gab dem Forum stolz bekannt, dass er an einem einzigen Tag elf Vereinbarungen mit Investoren unterzeichnet habe. Die Einwohner von Rjasan waren erschüttert, denn frühere Investitionsprojekte umfassten die Übertragung eines Teils des Kiefernwaldes Grachinaja Roschtscha an einen Unternehmer für Glamping (eine luxuriöse Form des Campings) und eines Teils des Michailowski-Bezirks für eine Mega-Schweinezucht. In Kommentaren beklagten sie den Gestank, die schlechten Straßen und die Verwandlung der Region in eine Industriezone.
Vor Beginn des Wirtschaftsforums erhielten russische Medien von der Präsidialverwaltung eine Anleitung zur Berichterstattung, schreibt das unabhängige russischsprachige Medium „Medusa“. Sie wurden angewiesen, den Russen „sozialen Optimismus“ zu vermitteln und über die Erfolge des Landes in allen Bereichen zu berichten.

Um das russische Wirtschaftswunder zu beleuchten, wurden auch regierungsnahe Bots im sozialen Netzwerk „VKontakte“, dem russischen Pendant zu Facebook, eingeschaltet, die in den ersten 30 Stunden des Forums mehr als 5.200 Kommentare hinterließen, wie aus Daten des Projekts „Botnadzor“ hervorgeht. Sie hinterlassen ihre Kommentare vor allem unter Beiträgen staatlicher Nachrichtenagenturen und Medien. Eines der Hauptthemen, das sie zu verbreiten versuchen, ist die Popularität des Forums und die internationale Isolation Russlands, von der keine Rede sein kann. „Das Internationale Wirtschaftsforum in St. Petersburg hat der EU, die sich die Kehle heiser geschrien hat, um Russlands Isolation zu betonen, buchstäblich die Nase gezeigt. Vertreter aus dem Ausland sind gekommen und begeistert von dem, was Russland zu bieten hat“, schreiben die Bots.
Vier Tage lang wurden auf dem Forum Themen wie Medizin, Wirtschaft, der Krieg in der Ukraine, traditionelle Werte und Religion diskutiert. Maria Woronzowa, die älteste Tochter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sprach auf der Podiumsdiskussion „Neoethik im Zeitalter der Neurotechnologien” über die Arbeit an der „Verbesserung des Menschen”, ohne jedoch zu sagen, welchen Menschen sie genau verbessern wolle. Ihren Worten zufolge werden Neurotechnologien in naher Zukunft in den Alltag Einzug halten und dank ihnen sowohl die körperliche Verfassung des Menschen als auch die Funktionen seines Gehirns verbessert werden können, was besonders gut wäre, wenn wir denselben Menschen meinen. Ihr zufolge ermöglichen diese Neurotechnologien nicht nur das Lesen, sondern auch das Lenken von Gedanken. „Wir werden Zugang zur Landschaft des Nervensystems erhalten – zu Gedanken, Ängsten und Emotionen“, erklärte Woronzowa.
Der Leiter des Zentrums für Gehirn- und Neurotechnologie der Föderalen Agentur für Biomedizinische Forschung, Wsewolod Belusow, erklärte, dass Neurotechnologien in Russland bereits in vollem Umfang eingesetzt werden – die Gesellschaft sei dafür bereit, und „bald werden die ersten Cyborgs auftauchen – es werden Amputierte sein“. Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko erklärte, dass in diesem Bereich „die Wahrung der mentalen Privatsphäre gewährleistet sein muss und die menschliche Authentizität nicht verloren gehen darf“. Recht hat er, allerdings vergaß er zu erwähnen, dass das Gesundheitsministerium die russische Bevölkerung nicht einmal mit den nötigsten Medikamenten versorgen kann, in vielen Regionen Mangel an Tollwutimpfstoffen herrscht, und die Lage für Diabetiker seit Jahren schwierig ist.

Putins jüngere Tochter, Jekaterina Tichonowa, sprach über die technologische Führungsrolle Russlands vor dem Hintergrund der steigenden Einnahmen ihres Unternehmens. Im Gegensatz zu anderen Teilnehmern des Forums trat Tichonowa nur virtuell auf. Die Organisatoren gewährten ihr wie schon im vergangenen Jahr einen derartigen Schutz der Privatsphäre, dass nicht einmal ihr Foto im Programm veröffentlicht wurde.
Doch nicht für alle war die Lage so rosig wie für Tichonowa. Der Rektor des Moskauer Physikalisch-Technischen Instituts, Dmitri Liwanow, erklärte, dass Russland noch nicht über die notwendigen Schlüsseltechnologien für die Entwicklung eines modernen Satelliten in niedriger Umlaufbahn verfüge. Seinen Angaben zufolge sind von den 13 Technologiepaketen, die für den effizienten Betrieb eines solchen Geräts erforderlich sind, nur vier im Land verfügbar. „Selbst bei den vier Technologien, die wir haben, sind die Lösungen teurer als ausländische Alternativen“, betonte Liwanow.
Selbst Putins Lieblingsphysiker und gleichzeitig Leiter des Kurtschatow-Instituts, Michail Kowaltschuk, verkündete überraschend: „Wir waren eine große Weltraummacht. Aber während wir von unserer Größe träumten, haben andere Länder sich um das Wesentliche gekümmert – die Kommerzialisierung ihrer Industriezweige. Im Ergebnis sind wir dort gelandet, wo wir jetzt sind.“
Auch über die russische Wirtschaft wurde gesprochen. Sie befindet sich laut dem zuständigen Minister Maxim Reschetnikow am Rand einer Rezession, also im Abschwung. Die Chefin der Zentralbank, Elwira Nabiullina, bezeichnete die aktuelle Lage als „Ausweg aus der Überhitzung“. Der Finanzminister Anton Siluanow äußerte sich optimistisch, dass es in der Wirtschaft „derzeit eine Abkühlung gibt, aber nach einer Abkühlung kommt immer der Sommer“. Auf die Frage nach der Prognose der Zentralbank für eine Inflation von vier Prozent antwortete er: „Wissen Sie, das Wichtigste ist der Glaube. Glaubt man an vier Prozent, dann kommt es auch so.“
Der Generaldirektor des Stahl- und Bergbauunternehmens Sewerstal, Alexander Schewelejew, erklärte, dass die Metallurgen planen, ihre Produktion in Russland zu stoppen, um „das Angebot auszugleichen”. Der Chef des Kama-Automobilwerks KAMAZ erklärte, sein „Barometer” deute nicht auf eine Abkühlung, sondern auf eine Eiszeit auf dem Markt für Lastkraftwagen.
Im vergangenen Jahr hielten sich die Teilnehmer des Forums mit kritischen Äußerungen zur russischen Wirtschaft zurück und sprachen fast ausschließlich über Wachstum und verschiedene Erfolge in der Zukunft, wobei sie die Gegenwart ignorierten. Nun warnte der Vorsitzende des Haushaltsausschusses der Duma, Andrej Makarow, dass Russland das Schicksal der UdSSR widerfahren könnte, da dem Land das Geld ausgeht.
„Der Sozialismus ist zusammengebrochen, weil er sein „grundlegendes Wirtschaftsgesetz“ nicht erfüllen konnte, die „maximale Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Werktätigen“, sagte Makarow. Er kritisierte auch die Nationalisierung ohne Verjährungsfristen und das nicht funktionierende Institut des Privateigentums in Russland. Er erwähnte, dass die Diskussion über wirtschaftliche Fragen oft darauf hinauslaufe, „Feinde zu suchen“, „und das haben wir alles schon einmal durchgemacht. Wir wissen, wohin das geführt hat“.
Es ist offensichtlich, dass die Wirtschaft des Landes in einem so schlechten Zustand ist, dass man nicht nur glauben, sondern auch ununterbrochen beten muss. Alexander Schipkow, Rektor der Russischen Volksuniversität, erklärte, dass es notwendig sei, Ökonomen mit theologischer Ausbildung vorzubereiten. „Wirtschaftsuniversitäten sind nicht bereit für theologische Fakultäten, aber wir brauchen ganz andere Ökonomen“, erklärte er. Die Idee wurde sofort vom Rektor der Staatlichen Universität St. Petersburg, Nikolai Kropatchew, unterstützt, der empfahl, noch weiter zu gehen: „traditionelle Werte“ in die Liste der Standards für alle Berufe aufzunehmen und denjenigen, die diese nicht teilen, ihre Diplome anzuerkennen.
In diesem Jahr wird überhaupt zum ersten Mal eine breite Diskussion über die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Religion geführt. Am ersten Tag des Forums begannen die Redner der Podiumsdiskussion zum Thema „Spirituelle Werte in der Wirtschaft“ mit einem Gebet vor der Ikone „Die Heiligen Schutzpatrone der Unternehmer“, die zum ersten Mal auf dem Forum präsentiert wurde. Darauf sind vorrevolutionäre russische Kaufleute abgebildet.
Am Vorabend des Forums gab Patriarch Kirill der Zeitung „Kommersant“ ein Interview, in dem er über „Moral und Ethik in Geschäftsprozessen“ sprach und die Notwendigkeit betonte, Geschäfte nach den Geboten des Evangeliums zu führen. Interessant zu wissen wäre, nach welchen Geboten der Staat seit Kriegsbeginn mehr als 400 Unternehmen nationalisiert, also der Privatwirtschaft aus der Hand genommen hat.

Auf dem Forum wurde auch für die Geburtenrate gekämpft. Der Generaldirektor des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung, Konstantin Abramow, erklärte, dass es nicht gelinge, die Geburtenrate in Russland zu erhöhen, da die Bürger des Landes „nur für ihr Vergnügen“ lebten. Die Vize-Sprecherin der Staatsduma, Anna Kusnetsowa, ist der Meinung, dass die Russen aus Egoismus und liberaler Ideologie keine Kinder bekommen wollen: „Das ist schon seit 30 Jahren so. Diese Umkehrung wurde von Putin zerstört. Dieser Trend jedoch wurde von Präsident Putin aufgehalten.“ Ergänzend erklärte das Oberhaupt der Republik Mordwinien, Artjom Sdunow, dass in seiner Republik Mädchen ab dem dritten Lebensjahr auf die Mutterschaft vorbereitet werden.
Ebenso grundlegend schlug der Leiter der Wladimirer Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche, Sergej Pilischin – davon überzeugt, dass es an traditionellen Werten mangelt – vor, den „russischen Kulturcode“ auf die Rückseite von Schulheften zu drucken.
Der stellvertretende Leiter der Föderalen Medizinisch-Biologischen Agentur und Leiter des Komitees zum Schutz „traditioneller spiritueller und moralischer Werte“ beim Sicherheitsrat, Nikolai Lischin, erklärte, dass, wenn jemand vorhatte, möglichst viele Kinder zu bekommen, und dann durch das Fernsehen davon abgebracht würde, dies als „Diebstahl traditioneller Werte” gelte und geahndet werden müsse.
Während der Diskussion „80 Jahre des Großen Sieges: Die Sicherung des Friedens ist die Pflicht der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs“, die im Rahmen des Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums stattfand, erklärte der Publizist und Politologe Wladimir Sergienko, dass in Europa derzeit angeblich eine „Arisierung 2.0“ stattfinde und verglich die gegen Russland verhängten Sanktionen mit der Verfolgung der Juden in Nazi-Deutschland. Er behauptet auch, dass in den baltischen Staaten bestimmte Verordnungen gelten, die seiner Meinung nach „die Nürnberger Gesetze gegen die Juden kopieren“.
Der Direktor des Instituts für historisch-rechtliche Forschung der Russischen Staatsuniversität für Wirtschaft, Renat Kusmin, erklärte im Rahmen derselben Diskussion, dass in Europa in letzter Zeit mehr als 500 neonazistische Gruppierungen legalisiert worden seien und 7 Millionen Neonazis aktiv seien. Daten, die die Existenz einer solchen Anzahl neonazistischer Gruppierungen oder deren massive Mitgliederzahlen bestätigen, legte er jedoch nicht vor.
Die ehemalige österreichische Außenministerin und mittlerweile vollkommen „russifizierte“, in St. Petersburg lebende Karin Kneissl erklärte, Russland müsse seine Sympathien für Europa aufgeben und „richtige Panzer bauen”. Ihrer Meinung nach sei „die Zeit für Sentimentalitäten vorbei“.
Präsident Putin selbst konnte auf dem Forum nicht überraschen und gab die seit mehr als drei Jahren gewohnten Erklärungen aus seiner Parallelwelt ab. Über die Illegitimität des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass Russland den Konflikt friedlich beenden wolle, dass die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine eine direkte Verwicklung Deutschlands in den Konflikt bedeute, dies jedoch „den Vormarsch der russischen Truppen nicht aufhalten werde”. Und so weiter und so fort, bis er am Ende auf die Frage, welche Fehler er in den 25 Jahren seiner Herrschaft begangen habe, sanftmütig mit einem Zitat aus dem Evangelium antwortete: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Am Ende des Forums erklärte der Präsident, dass er die gesamte Ukraine als russisch betrachte, aber anerkenne, dass es dort Menschen gebe, die nach Unabhängigkeit strebten. Er sei bereit, diese – unter der Bedingung eines blockfreien und neutralen Status der Ukraine – zu akzeptieren. Und überhaupt, ergänzte er: „Wo der Fuß eines russischen Soldaten hintritt, das gehört uns.“ Auch nicht neu, aber man sollte es erst nehmen.
Ansonsten sind die Ergebnisse des Forums verblüffend: Russland und Südafrika haben sich über den Import von russischem Wodka geeinigt. Und die befreundeten Taliban haben versprochen, tausend wertvolle Fachkräfte nach Russland zu bringen. Es steht außer Frage, dass einige Auftritte der Forumsteilnehmer der russische Staatszirkus ohne Weiteres in sein Repertoire aufnehmen könnte. Irgendwer muss muss doch von diesem Forum profitieren!