Thomas Martin
Das schwankende Gefühl der Bedrohung, das sich seit einem Jahr durch die kollektive Wahrnehmung frisst, hat die Prioritäten des Alltags in einer Weise verschoben, dass kein Vergleich zu weit hergeholt scheint. Wir überbieten uns in Superlativen, von der Konfusion der Regelwerke ganz zu schweigen. Was im Zentrum stand, geriet in die Randgebiete der Normalität. Was selbstverständlich war, bekam Seltenheitswert. Der verunmöglichte Friseurbesuch ist das parodistische Bild. Die als zentrales Gut der Demokratie geltende Reisefreiheit ebenso wie die unbegrenzte Einkaufsmöglichkeit, sie wurden Luxus. Übrig blieb, neben der gewährleisteten Grundversorgung, die Möglichkeit, seine Meinung äußern, auch öffentlich. Woran sich paradigmatisch nichts geändert hat.
Mit Blick auf fernere Bezirke der bewohnten Erde kann man es in vier Worten zusammenfassen: Uns geht es gut. Woanders ist das anders, wir lesen davon täglich und mit zunehmendem Entsetzen, ausgelöst von den durch die Statistik springenden Fallzahlen.
In Paris begegnen die Leute einander mit Misstrauen und Hypochondrie, während die weniger hypochondrischen die Theater und die Kinos besetzen. In Johannesburg, berichtet ein Bekannter, haben die Leute gleichmütig und korrekt jede hygienisch nicht nur vorgeschriebene, sondern auch notwendige Vorsichtsmaßnahme angenommen und behalten sie bei. Eine Freundin meiner Tochter, derzeit als Gastschülerin in Houston, erzählt vom Stigma, als einzige mit Maske auf dem Campus zu stehen. Die Freunde aus Neu Delhi und aus Moskau berichten von ausgeprägter Corona-Ignoranz und Argwohn gegenüber masketragenden Europäern. In Indien feiern sie ungeschützt ihre Rituale im Ganges, und die russische Seele siehst sich, gestützt von der Staatspropaganda, ohnehin stärker als das Virus, dazu flankiert vom Impfstoff, der den unbezwingbaren Namen Sputnik trägt. Und in China, hört man, geht ohne Maske sowieso nichts, nun auch ohne Corona-Kontroll-App nicht.
Mit der Zeit werden früher für absurd gehaltene Vorkehrungen Gewohnheit, zumindest in Teilen. Nach dem „harten Lockdown“ im Frühjahr 2020 mussten die angestauten Termine innerhalb von Tagen abgearbeitet werden, um die zurückliegenden Wochen zu kompensieren. Ich sehnte mich umgehend nach der Isolation von März, April, Mai. Und ich hätte nicht gedacht, dass diese erste Spitze des Ausnahmezustands in der Erinnerung derart verklärt leuchten würde, wie sie es jetzt gerade tut.
Es kann daran liegen, dass ich vor einem Jahr einmal Berlin für mich alleine hatte. Es war der 11. April, die Nacht auf Ostersonntag, als Lockdown und Shutdown in eins fielen, und pandemisch niemand besonders erfahren war. Noch war Händewaschen wichtiger als Masketragen. Kaufhäuser und Theater waren zu, die Gottesdienste wurden abgesagt. Ich bekam eine Einladung, zusammen mit 50 anderen, Autoren, Künstlern, Christenmenschen, in der Matthäus-Kirche am Kulturforum durch die Nacht zu lesen. Österlich, mit Zuversicht, nicht zwingend biblisch. Lese jeder zehn Minuten, leise, laut oder ganz für sich. Eine ins Allein-mit-sich-sein übersetzte Andacht, die ich zum ersten Mal als solche überhaupt verstand.
Als ich gegen halb zwei Uhr dran war, war die Kirche dunkel, der Pfarrer und ein Begleiter standen davor, mehr als drei durften nicht zusammenstehen. Sie begrüßten sechsmal in der Stunde jeden, der zur Lesung kam, und verabschiedeten sie alle sechsmal in derselben Stunde. Der Pfarrer zeigte mir, wo in der dunklen Kirche der Leseplatz war – vorn rechts vor den zwei Glasbalken, die von der Apsis hängend das Kreuz bilden, wo die kleine Leselampe klemmt. Ich setzte mich an die Lampe, starrte in die leere Apsis, die von sechs Stiftkerzen auf dem Altar andeutungsweise beleuchtet war, nahm mein Papier aus der Tasche und begann leise vor mich hin zu lesen.
Nach zwei Minuten blickte ich auf, ich sah die orangenen Lichtfelder von der Potsdamer Straße durch die Scheiben rieseln und die blauen Glasbalken, die aus meiner versetzten Position ein „F“ eher als ein Kreuz bildeten. Ich sah wieder nach unten. Ich las. Es war so still. Und dunkel. Es war enorm. Es waren zehn Minuten.
Als ich raus kam, dümpelte eine Polizeiwanne vorbei. Die nach mir Lesende ging hinein und zündete ein Opferlicht an. Der Pfarrer wünschte Frohe Ostern, wir sagten ohne Hände Tschüß, ich schob das Rad über die Schräge am Kulturforum und sah mir die Stadt an. Das bestrahlte Zelt des Sony Centers warf den Ausnahmezustand als kolorierten Schatten über die Straße, alle übrige Beleuchtung schien gedimmt. Kein Auto fuhr und niemand ging. Ich sah drei Figuren vor der Kirche stehen, eine verschwand nach drinnen, eine kam raus. Die Glocke gab einen Ton ab, halb drei.
Ich fuhr zurück durch den Tiergarten, das laublose Großflächendenkmal in Schwarz. Ich umkurvte Denkmäler, die ich nicht erkannte, rollte über Wurzeln, fuhr gegen einen Poller und kam vor den beiden T-34 zum Stehen. In meiner Erinnerung ist das Flutlicht über dem kupfergrünen Rotarmisten, das einzige Licht auf der Strecke bis zum Brandenburger Tor. Zum erstenmal fiel mir die beschützend und zugleich besitzergreifende Hand auf, die die Statue über die Stadt legt. Von hier aus hoben im April 1945 noch Flugzeuge von der Ost-West-Achse ab und brachten nervöse Kriegsverbrecher aus Berlin.
Das Tor war offen. Ich fuhr in die Stadt durch die Pestmauer ein. Ich war mir sicher, dass ich der einzige war, der das heute Nacht tat, vielleicht E.T.A. Hoffmann noch, der von Lutter zu Wegner fuhr, sonst niemand. Zwischen US-Botschaft und Akademie war die Torwache aufgebaut, im Halbring drei Wannen, gepanzerte, behelmte Polizisten dabei, die wie Ritter in Plastik ihre Stadt vor dem unsichtbaren Angreifer beschützten. Sie reckten die Köpfe nach oben, als ob die Attacke nur von dort kommen könne. Ich rollte langsam auf sie zu, fühlte mich verboten, und rief leise Gute Nacht. Einer mit Zopf im Bart winkte, ängstlich wir mir schien, aber beruhigend zugleich. Es hätte nur noch die Feuertonne noch gefehlt, um das apokalyptische Bild rundzumachen, bevor die ersten Einschläge kommen. Aus dem All.
In stillem Einverständnis mit dieser stillstehenden Zeit fuhr ich vorbei. Es war überstill, es war dunkel, und roch zum Überfluss auch noch nach Frühling. Das hatte ich in der Kombination zuletzt als Jugendlicher in den 80er Jahren in Ostberlin erlebt, als gar kein Weg durchs Tor führte.
Als ich nachhause kam, wurde es hell. Ich sah das gelesene Manuskript an: „Todes Duell“, die letzte Predigt des englischen Lyrikers und Dekan von St. Paul‘s, John Donne, gehalten in der Osternacht von 1630. „Auch Jakob hatte keine Wohnungen, nur Wanderschaften hier im Leben. ‚Es sind die Tage der Jahre meiner Wanderschaft.‘ Denn während wir im Körper sind, sind wir lediglich auf Wanderschaft, und wir sind fern vom Herrn.“
Aha! Der Radweg durch die Nacht, er war mein Jakobsweg gewesen. Die Bewegung, das „Erwandern“, das Begreifen. Ich war zu müde für Erleuchtung, doch ein Jahr später betrachtet, passt es auf unbestimmte Art zum „Ich bekenne“ der Kanzlerin, die mit sprichwörtlicher Nüchternheit den Fehler verfrühter Verordnungen eingestand.? Wenn es weiter nichts ist. Niemand stirbt den Bürgerlichen Tod, niemand ist vogelfrei; nur am Virus sterben manche, viel zu viele freilich.
Dass etwas auf Gedeih und Verderb uns alle angeht, ist, klar, auch ein biblisches Bild. Irgendwo zwischen Sodom und Gomorrha und der Sintflut zu verorten. Und dann noch das Zerrbild des im Suezkanal steckengebliebenen Lastkahns mit dem sprechenden Namen „Ever Given“, der den Welthandel ausbremst. Falls Beten nicht helfen sollte, Reflexion ist auch ein Schritt. Distanz zum Gewohnten – man kann es als Verfremdung betrachten – ist eigentlich eine Voraussetzung für das Verständnis jeden Geschehens und eines jeden selbst. Vorgänge miteinander in Beziehung zu setzen, ist gerade in Ausnahmesituationen eine Grundlage zur Stabilisierung schwankenden Bewusstseins. Aber auch klar, dass das nichts auf Dauer ist.