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Ein Bergwerk für Franz Fühmann

Ein Bergwerk für Franz Fühmann

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hinstorff, Rostock)

 

… man mag sich noch so oft sagen, daß Literatur nicht das Leben sein kann und nicht dessen Surrogat sein darf – etwas in einem weiß es besser.

(Im Berg, 1983)

 

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Franz Fühmann am 15. Januar 2022 lesen Autorinnen und Autoren, Menschen, die Literatur produzieren, konsumieren, rezipieren – oder einfach nur lieben – aus der Vielfalt seines Werk. Wir publizieren den Ablauf aus dem Gedächtnisprotokoll.

Jürgen Kurz (Orgel), Michael Busch (Flügel)

Musik aus dem Berg. Improvisation für Franz Fühmann

Kerstin Hensel

Immer

hat der Held Angst. […]

Immer sind die geringen Dinge die wichtigen.

Die Weisheit der Märchen: Immer

Geht die Reise zum Grund […]

 

(Die Weisheit der Märchen)

Volker Braun

Den Unterschied zwischen lebendiger und erstarrter Form, den ich bei meiner Arbeit durch einen Vergleich zweier Sonette – Texte verwandter Thematik von Gryphius und Emanuel Geibel etwa […] herauszuarbeiten gedachte, ich hätte ihn, was die lebendige Form anlangte, kaum besser studieren können als eben hier, und besonders dann, wenn die drei den Saunaraum betraten. (Drei nackte Männer)

Thomas Martin

Hügel waren mit lichten Wäldern bewachsen, mit Birken, Erlen und Kiefern, und unter den schütteren Kronen drängten sich die Regimenter zusammen, Mann an Mann, Zelt an Zelt, Geschütz an Geschütz. Es war, als gehörten sie zur Landschaft. „Das ist das Baltikum“, sagte Karl. „So war das schon immer!“ (Kameraden)

Annett Gröschner

Der Tod wird nicht erinnert. Und das ist auch mein Hauptkonflikt. (Brief an Ingrid Prignitz, 24.1. 1983)

Leonore Piper

Der Fluch, keine Kritik zu haben, die uns zum Äußersten unserer literarischen Möglichkeiten zwingt […] Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genauso funktioniert, wie du in Charkow oder Athen hinter deinem Fernschreiber funktioniert hast: Dazu warst du doch da […] (Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens)

Ida Novak

Das Fenster geht allerdings bis zum Fußboden runter. Draußen ist ein Kindergarten, die Kinder brüllen und toben, aber das stört mich nicht im geringsten. (Brief an Joachim Damm, November 1975)

Lea Fleissgarten

Es war einmal ein langer, langer Satz, darin kamen schrecklich viele „unds“ vor, und weil der Satz so lang war, konnten die Wörter gar nicht richtig aufeinander aufpassen, und so lief ein und aus dem Satz heraus und legte sich in die Sonne und ließ sich bescheinen.

Jan Philipp Reemtsma

Und ist nicht auch eingestanden worden, daß die Poesie wie das Verhängnis wirkt? (Sturz des Engels/Vor Feuerschlünden)

Robert Mießner

Sie war klein und blau, vierblättrig blau von der Farbe eines herrischen Himmels, der durch vier winzige weiße Tupfen zum Kelchgrund hin noch gewaltiger aus seiner Erdentiefe stieg. (Die Gewitterblume)

Luis Peters

Da heulte es in Abrahams Herz, so wie Hund heulen. Wie er mir die Mühe erspart hat, dachte er, der liebe, der gute, der einzige Sohn! Wie verständnisvoll er ist! […] Dies war so schrill gedacht, daß der Satan es hörte. (Erzvater und Satan)

Uwe Kolbe

Freud, seine Blicke gleich Blitzen schleudernd, schreit, daß ich unsre Reise gefährde, wenn ich mich widerspenstig verhalte –: Er müsse mich so lange beißen bis ich keinen Schmerz mehr spüre und zugleich den Sinn des Beißens verstehe, dann erst fänden wir beide ans Ziel. (Der Traum von Sigmund Freud)

Luise Meier

Eigentlich ist alles das Schauerliche, wenn man es genauer anschaut. – Auch die Natur? – Eben die Natur: Der Mensch schaut sie an. (Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E. T. A. Hoffmann)

Jürgen Kurz

Wenn‘s nicht kommt, wie’s kommt, kommt‘s so, wie‘s nicht kommt, also ist’s doch gekommen, wie’s kommt, und das kommt darum, weil – (Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer)

Franziska Pietzofski

Ein gelbes, ganz gelbes Auto mit vier Juden drin, vier schwarzen mörderischen Juden mit langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma […] (Das Judenauto)

Maria Brosig

Ich gedenke am 13.11. für etwa fünf Wochen nach Neuruppin zu fahren und mit Gewalt in die Fontanespuren einzubrechen. (Brief an Günter Caspar, 1.11. 1967)

Erdmut Wizisla

Der Arbeit konnte er sich nicht entziehen, und keiner von uns konnte das für ihn tun. Etwas Andres ist das Maß des Unproduktiven, das kraft Amtes, und kraft dieses besonderen Amtes auf ihn gehäuft war. So darf es nicht weitergehen; zu dieser Entschlossenheit soll sein Tod uns verpflichten. (Ich habe meinen Lektor verloren)

Corinna Harfouch

Draußen stand die Nacht, mit zerlöcherter Stirne, und sah mit mir meinem Vater zu, der sich nun in die Gedichte versenkte und mit Erinnerungen stritt; er starrte lange auf eine Zeile, ohne die Augen zu bewegen, und sagte manchmal: „Mein Gott“ […] (Vor Feuerschlünden)

Kristin Schulz

Photographien von geistig Behinderten: Wie wird man eine solche Herausforderung aufnehmen? – Ich weiß es nicht. (Was für eine Insel in was für einem Meer)

Ralf Klausnitzer

Wollen Sie in ihrem Buch etwa schreiben, daß ich hier keine geistige Heimat habe? Ja? Wollen Sie’s wirklich? (Brief an Anneliese Löffler, 7.10. 1976)

Dietrich Sagert

„Wohnen“ ist ein ausnehmend mythisches Wort, es sagt ein Verweilen an einer Stätte, da man sein eigenstes Wesen zu entfalten vermag (daß man gezwungen sein kann, an einer ungeliebten Stelle sein Dasein verbringen zu müssen, ist schon ein Zweites) […] (Vor Feuerschlünden)

Arne Born

Ich habe Angst nicht vor der Wahrheit, wie quälend sie auch immer sein mag, wohl aber vor der Möglichkeit einer Entwicklung, die im Namen von Wahrheit Wahrheit zurückdrängt und letztlich allseits ungewollte irreversible Entscheidungen erzwingt.

(Offener Brief an den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage im Ministerium für Kultur Klaus Höpcke, 20.11. 1977)

Michael Busch

Es ist einfach nicht wahr, daß in Uniterr Papierbücher verboten sein werden.

(Pavlos Papierbuch)

Thomas Martin

Und der Teufel zieht in Budapest ein: Durch die Magyar utca fährt langsam ein schwefelfarbner geschlossener Wagen mit der pechschwarzen Aufschrift

VOLAND

(Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens)

Eine Kooperation von: Stiftung St. Matthäus, Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur sowie Modell Berlin e.V.

Fotos: Wilhelm Burger, Ralf Klausnitzer, Maria Brosig, Arne Born

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