
Seit mehr als zehn Jahren und einer langen Reihe von Verbotsgesetzen in Russland, hört man immer wieder: Je näher das Ende des Imperiums, desto wahnsinniger seine Gesetze. Nun warten alle gespannt darauf, dass der Grad des Wahnsinns das erforderliche Niveau erreicht, damit das Ende endlich sicher ist.
In den letzten beiden Juliwochen diskutierte die besorgte Öffentlichkeit in Russland und außerhalb des Landes über die nächsten Gesetzesänderungen, die einen Strafkatalog für die Suche nach „extremistischen Materialien“ vorsehen. Auf der Liste des Justizministeriums waren Ende Juli bereits 5.475 solcher „Materialien“ verzeichnet. Darunter befinden sich Popmusik und Literatur wie das Album „Muzyka beliykh“ (Musik der Weißen) der Band „Order“, der Song „Nischichich ubivaj“ (Tötet die Bettler) der russischen Punkband „Pornofilmy“, der Track „Posledniy zvonok“ (Letzter Schulgong) des russischen Rappers und ausländischer Agenten Oxxxymiron oder das Buch „Frau in Berlin“ von Marta Hillers.
Als extremistisch gelten Äußerungen wie „Nein zum Krieg“, „Die Krim gehört zur Ukraine“, „Die Regionen und Republiken Russlands müssen unabhängig von Moskau sein“. Darüber hinaus alle Aussagen und Taten, die nach Ansicht der Strafverfolgungsbehörden auf eine „gewaltsame Änderung der Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung, die Verletzung der Integrität der Russischen Föderation, die öffentliche Rechtfertigung von Terrorismus, die Anstiftung zu sozialer, rassistischer, nationaler oder religiöser Feindseligkeit sowie die Propagierung der Ausschließlichkeit, Überlegenheit oder Minderwertigkeit von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe abzielen“. Allein dafür könnte man die gesamte russische Regierung, einschließlich ihres Präsidenten, ins Gefängnis stecken, doch bis sie an die Reihe kommen, wird das halbe Land hinter Gittern sitzen.
Überdies hat die Staatsduma einen Zusatzartikel verabschiedet, der die Begehung einer Straftat unter Nutzung von VPN-Diensten als erschwerenden Umstand einstuft. Dabei sind diese Dienste gesetzlich nicht verboten, lediglich Werbung dafür ist bislang untersagt.
Bereits während der Beratung dieses Gesetzes schalteten sich Bots im sozialen Netzwerk VKontakte, dem für den russischen Sicherheitsdienst komplett einsehbaren Facebook-Pendant, in die Diskussion ein. Nach Angaben des unabhängigen Online-Projekts Botnadzor hinterließen sie vom 16. bis 18. Juli 3.400 Kommentare in 249 Beiträgen, in denen diese Nachricht erwähnt wurde. In ihren Kommentaren zur Nachricht über die Sperrung der Suchfunktion verwendeten die Bots die Begriffe „Kinder“, „Terroristen“ und „allgemeine Sicherheit“. Über VPNs berichteten die Fake-Accounts, dass solche Programme von Kriminellen genutzt würden, um „Ihre Daten zu stehlen“, und empörten sich darüber, dass „Bürger VPNs nutzen, um extreme (sic!) Materialien zu erhalten“. Da Bots nach dem Copy-&-paste-Prinzip arbeiten, verbreitete sich dieser Fehler im russischen Teil des Internets, und wer weiß, vielleicht werden nun nicht nur Extremisten bestraft, sondern auch Liebhaber des Extremen jeder Spielart.

Offensichtlich haben all diese Neuerungen das Interesse der russischen Bürger geweckt, so dass am 22. Juli in der russischen Suchmaschine Yandex die Wortkombination „extremistische Materialien“ mehr als 80.000 Mal gesucht wurde – bei einer „normalen“ Zahl von 200 bis 700 Suchanfragen pro Tag, wie der Telegram-Kanal „Moschem objasnit“ (Wir können es erklären) angibt. Bei Google erreichte diese Suchanfrage am 17. und 22. Juli die maximal möglichen 100 Punkte, was „höchste Popularität der Suchanfrage“ bedeutet (die Statistik der amerikanischen Suchmaschine gibt die Anzahl der Suchanfragen nicht an). Die Menschen wissen einfach nicht, was genau auf der Extremismus-Liste steht, und ohne dieses Gesetz hätten sie vielleicht gar kein Interesse daran gehabt. So aber haben sie bis zum Inkrafttreten des Gesetzes – bis zum 1. September – eine letzte Chance, alle verbotenen Inhalte zu lesen.
Erstaunlicherweise sprachen sich die Vorsitzende der „Liga für ein sicheres Internet“, Jekaterina Misulina, die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonjan, die Führung der Kommunistischen Partei, die Partei „Neue Menschen“ und sogar patriotische Z-Blogger gegen das Gesetz aus und bezeichneten es als „Wahnsinn eines rasenden Druckers“ und „Schlag ins Gesicht des Intellektualismus“. Und in der Staatsduma wurde die Initiative sogar mit der Bestrafung für „Gedankenverbrechen“ aus Orwells Roman verglichen. (Der „rasende Drucker“ bezeichnet den Eifer der Duma neue meist repressive Gesetze zu entwerfen die der Präsident des Landes, Wladimir Wladimirowitsch Putin, ebenso rasend schnell unterzeichnet.)
Keiner der Abgeordneten konnte den Mechanismus des neuen Gesetzes eindeutig erklären, doch Konstantin Basjuk, vom Kreml ernanntes Mitglied des Russischen Föderationsrates und Vertreter der teilannektierten ukrainischen Region Cherson, schrieb in seinem Telegram-Kanal, dass das Gesetz bereits im Herbst verschärft werden soll und dass nicht nur das Lesen verbotener Informationen, sondern auch die Veröffentlichung extremistischer Inhalte für juristische Personen unter Strafe gestellt werden soll. „Unsere Aufgabe ist es, meint Basjuk, das Internet vor der Gefahr der Verbreitung terroristischer Ideologien zu schützen, wobei wir die Erfahrungen der führenden Länder berücksichtigen, gleichzeitig aber die Freiheit unserer Bürger bewahren müssen.“ Im Großen und Ganzen ist alles nicht ganz klar, aber sehr interessant.
Die anderen Gesetze dieses Monats stehen dem vorherigen in Bezug auf Unschärfe der Begriffe und repressives Potenzial in nichts nach. Zum Beispiel das Gesetz „über extremistische Gemeinschaften“, das in der Tradition der Sippenhaft besagt, dass wenn ein Mitglied einer Gemeinschaft extremistisch ist, die gesamte Gemeinschaft als extremistisch gilt. Unter Gemeinschaft kann alles Mögliche verstanden werden, sogar ein Chat für Liebhaber von Kindermärchen.
Und um das Thema Extremismus für Juli irgendwie abzuschließen, hat der Oberste Gerichtshof Russlands die „Internationale Satanistische Bewegung“ verboten, die nun ebenso wie die internationale LGBT-Bewegung als extremistisch gilt. Lassen Sie sich von den Formulierungen nicht täuschen, auch wenn solche Bewegungen in Wirklichkeit nicht existieren – für die Teilnahme daran wird man trotzdem ins Gefängnis gesteckt. Schließlich ist Russland ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Religionswissenschaftler Roman Silantjew, der als Experte der Anklage zum Verbot des Satanismus auftrat, erklärte, dass das Verbot nicht nur für „die Anhänger Satans“ gelten werde, sondern auch für Anhänger anderer „dunkler Götter“, wobei bisher noch niemand eine vollständige Liste dieser Götter vorgelegt und den Mechanismus zur Aufdeckung von Straftaten erklärt hat.
Nun ist nicht ganz klar, wem man glauben kann und wie, aber nach all den Gesetzen, die diesen Sommer verabschiedet wurden, ist es eigentlich auch egal. Allerdings ist offensichtlich, dass nach den neuen Gesetzen zuerst diejenigen bestraft werden, die man nicht anders erreichen konnte, und dann alle möglichen anderen. Die Repressionsmaschinerie darf nicht untätig sein – sie muss in Bewegung bleiben, sonst frisst sie sich selbst.

Wenn wir uns das Leben eines durchschnittlichen Menschen vorstellen, der an alternativen Informationen interessiert ist, sähe das so aus: Der fiktive Pjotr Petrowitsch liest jeden Morgen über eine VPN-Verbindung (die seine Schuld noch verstärkt) seinen Feed auf dem verbotenen Facebook, darunter Nachrichten von ausländischen Agenten wie Deutsche Welle oder der Stiftung zur Förderung der Buchkultur „Irkutsker Verein der Bibliophilen“. Pjotr Petrowitsch vergisst nicht, einen Blick auf das ebenso verbotene Instagram zu werfen und schreibt Nachrichten in WhatsApp, das derselben extremistischen Gruppe Meta gehört. Er besucht Websites unerwünschter Organisationen: Radio Liberty oder das unabhängige russischsprachige Medium Meduza. Er schaut sich auf YouTube Interviews des ausländischen Agenten Jurij Dud an oder liest Bücher des extremistischen Schriftstellers Boris Akunin. Wegen des Kontakts zu seinen Verwandten im Ausland kann Pjotr Petrowitsch bereits allgemein der Spionage oder der „Unterstützung eines ausländischen Staates“ beschuldigt werden. Aber nicht nur Pjotr Petrowitsch, bei dem die formalen Anzeichen einer Straftat offensichtlich sind, kann inhaftiert werden, sondern auch Iwan Iwanowitsch, der nicht einmal Google benutzt, liefert Gründe: Fotos von Rapsfeldern vor blauem Himmel, der Besuch des Kindergartens „Regenbogen“, Englisch- oder Französischkenntnisse …
Die Sache ist die, dass es der Polizei und der Staatsanwaltschaft völlig egal ist, wen sie einsperren – die Hauptaufgabe der Exekutive ist es, den Plan zu erfüllen. Sicherlich gibt es Personen, die aus Sicht der Behörden eindeutig schuldig sind, aber wenn in einer mittelgroßen Stadt pro Monat hundert Extremisten und Terroristen festgenommen werden müssen und es nicht genügend „echte“ Kriminelle gibt, dann wird festgenommen, wer gerade zur Hand ist.

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In dieser Situation beschränkt sich die Aufgabe der Judikative ausschließlich auf die Bestrafung unter Beachtung des stalinistischen Grundsatzes: Beweis für die Straftat ist die Anklage selbst. Und die Hauptfunktion der derzeitigen russischen Legislative besteht darin, alles zu verbieten. Alles, was irgendwie vertretbar war, wurde bereits verboten; jetzt verbietet man alles, was einem gerade in den Sinn kommt. So arbeitet das Ministerium für digitale Entwicklung, Kommunikation und Massenkommunikation an einem Gesetz, das Anrufe von ausländischen SIM-Karten verbieten soll. Die Maßnahme wird mit der Bekämpfung von Telefonbetrügern begründet. Anrufe werden standardmäßig blockiert – und wenn ein Teilnehmer solche Anrufe empfangen möchte, muss er dies seinem Netzbetreiber mitteilen, was einer Selbstbezichtigung bei der Staatssicherheitsbehörde FSB praktisch entspricht.
In der Staatsduma wird ein Gesetzentwurf zum Verbot von „Entmenschlichungspropaganda“ unter Kindern vorbereitet. Und dabei geht es nicht um die Verwicklung Minderjähriger in Kriege, wie man vielleicht denken könnte. Unter „Entmenschlichung“ verstehen die Abgeordneten Kinderspiele, bei denen sich ein Kind beispielsweise als Katze oder Drache vorstellt. Das heißt, alle Verkleidungen und Kinderfeste mit Hasenjungen und Schneemädchen müssten theoretisch verboten werden, ebenso wie Szenen aus Märchen, in denen die meisten Figuren Tiere, Fabelwesen oder Schneeflocken sind.
Laut Tatjana Butskaja, der stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für Familienschutz, bringen solche Spiele Kinder dazu, sich den Naturgesetzen zu widersetzen. Es wäre interessant zu erfahren, was diese Abgeordneten in ihrer Kindheit gespielt haben, dass sie sich nun dazu entschlossen haben, sich den Gesetzen des gesunden Menschenverstands zu widersetzen.
Nikolai Nowitschkow, Mitglied des Duma-Ausschusses für die Entwicklung des Fernen Ostens und der Arktis, schlug beispielsweise vor, Russen zu bestrafen, die über einheimische Waren schimpfen. Er erklärte, dass öffentliche Kritik an russischen Marken und Waren eine Handlung sei, die den patriotischen Gefühlen und Interessen des russischen Volkes widerspreche. Anscheinend steht die Herstellung von Produkten minderster Qualität also nicht im Widerspruch zu den Interessen des Volkes. Der stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Wirtschaftspolitik, Nikolai Arefjew, forderte ein Verbot der Selbstständigkeit. Selbstständigkeit gebe es nirgendwo auf der Welt, sagte er, und man dürfe den Begriff „arbeitslos“ nicht durch „selbstständig“ ersetzen. Die Abgeordnete der Kommunistischen Partei Russlands, Angelika Glatskowa, schlug vor, die Beseitigung von Objekten, die mit Lenin in Verbindung stehen, zu verbieten. Hier scheint es einen Konflikt mit dem früheren Gesetz über Satanisten und dem Gesetz über die Verletzung der Gefühle von Gläubigen zu geben.

Andererseits haben die Behörden mit der Verabschiedung neuer Gesetze neben der Schürung von Angst durch endlose Verhaftungen und Geldstrafen für „Fake News“ über die Armee und deren Diskreditierung mehr Möglichkeiten, den Haushalt aufzubessern. Im vergangenen Jahr wurden laut Angaben der Justizabteilung des Obersten Gerichtshofs allein aufgrund von Artikeln im Zusammenhang mit „LGBT-Propaganda“ 146 Geldstrafen gegen russländische Staatsbürger in Höhe von mehr als 37 Millionen Rubel (etwa 370.000 Euro) verhängt. Und dann gibt es noch den Artikel „Beleidigung der Staatsgewalt“, den Straftatbestand „unterbliebener Selbstanzeige als ausländischer Agent“ und den der „Beteiligung an unerwünschten Organisationen“, von denen bis Ende Juli bereits 245 gelistet waren – die Anwendung des letzteren Artikels ist ebenso elastisch auslegbar wie die des Gesetzes über Extremisten.
So hat im vergangenen Monat die Generalstaatsanwaltschaft Russlands das British Council, der unter der Schirmherrschaft des britischen Außenministeriums arbeitet und die internationale Englischprüfung IELTS organisiert, als „unerwünschte Organisation“ eingestuft. Und nun stellt sich heraus, dass bereits die Zahlung der Prüfungsgebühr auf das Konto der Organisation als Finanzierung einer unerwünschten Organisation gewertet werden kann. Dafür drohen eine Geldstrafe von bis zu 500.000 Rubel (etwa 5.000 Euro) und bis zu fünf Jahre Haft. Damit könnte man den Haushalt täglich auffüllen, Kleinvieh macht schließlich auch Mist.
So wurde beispielsweise in diesem Monat die Direktorin der wissenschaftlichen Bibliothek der Nordost-Föderalen Universität, die den Namen des 1938 unter Stalin erschossenen Jakutischen Parteifunktionärs Maxim Ammosow trägt, in Jakutsk wegen ihrer Beteiligung an einer „unerwünschten Organisation“ bestraft, weil sie im Lesesaal Bücher des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Heinrich Böll ausgelegt hatte. Die Böll-Stiftung wurde bereits im Mai 2022 als unerwünscht eingestuft. Und die Dmitri-Nawalochin-Kinderbibliothek in Chabarowsk wurde wegen eines Buches über Naturschutzgebiete mit einem kleinen Logo des World Wildlife Fund (WWF) zur Rechenschaft gezogen (ja, auch dieser ist unerwünscht). Hier muss man irgendwie den Überblick behalten, wachsam bleiben, neue Gesetze verfolgen und die immer länger werdenden Verbotslisten aktualisieren.
Dieses endlose immersive Theater des Absurden ist weder das Ziel noch der Grund für das, was in Russland geschieht. Es ist eine Folge davon, dass die russische Regierung in einer so parallelen Realität lebt, dass sie völlig aus der realen Welt, in der die übrigen Menschen – also ihre Untertanen – leben, herausgefallen ist. Und alles, was nicht in diese parallele Realität passt, verbietet oder vernichtet diese Regierung.
Obwohl, um wirklich fair zu sein, verbietet sie nicht alles. Kürzlich wurde die vollständige Abholzung der Wälder am Baikalsee für Friedhöfe genehmigt, und Mitarbeitern des Strafvollzugs wurde erlaubt, bei der Festnahme gesuchter Verurteilter Gewalt und Waffen anzuwenden. Es gibt noch Freiräume!