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Ein Feuer, das noch brennt

An der Gorki-Straße in Nischni Nowgorod, der sechstgrößten Metropole Russlands, sitzen auf drei im Halbkreis angeordneten Bänken drei Polizisten aus den letzten drei Jahrhunderten. Im Winter sind sie beschneit wie Krippenfiguren, die sich um den neugeborenen Christus versammeln. Links ein Polizist mit Fellmütze aus Maxim Gorkis Dunkeldrama „Nachtasyl“, in der Mitte ein sowjetischer Milizionär, rechts außen ein Polizeimann in der Uniform der Gegenwart.

Dem Polizisten der Zarenzeit sitzen zwei Tauben zu Füßen, dem Sowjetmilizionär ein Schäferhund, der Staatsdiener von heute legt den Arm einladend auf die Lehne. „Hüter des Gesetzes auf immer“ ist der Titel der Installation. Der Platz auf den Bänken ist geräumig, Zivilisten, wenn sie es wollten, fänden Platz zwischen ihnen. Wer dort sitzt, begibt sich in den Arm des Gesetzes. Der Naturalismus der Figuren des Denkmals hebt das Mehrdeutige der Funktion der Gesetzeshüter eher hervor, als dass er es mindert.

Am Nachmittag des 2. Oktober 2020 nimmt eine Frau neben dem Polizisten der Russischen Föderation Platz. Ein Video – vermutlich der Überwachungskamera – zeigt die Sitzende von hinten, an ihrem Arm steigt eine Flamme auf. Sie schiebt ihre Tasche unter den eisernen Arm des Polizisten, lehnt sich zurück, sie brennt. Ein junger Mann läuft auf sie zu, sie wehrt ihn ab, die Flamme hat ihren Körper erfasst. Der Mann, zieht sich die Jacke aus, schlägt damit auf die Flammen ein, die Frau steht auf, sie wedelt mit den Armen, was das Feuer noch anfacht, sie sinkt zurück auf die Bank. Der Mann kämpft mit der Jacke gegen die heller aufflackernden Flammen, die Tasche der Frau brennt, der Inhalt fällt wie schmelzend zu Boden. Die in den Flammen versinkende Frau kippt vornüber, liegt vor den Bänken, der Mann zückt sein Handy, läuft hin und her, zieht sich zurück aus dem Bild. Die Flammen lodern auf dem Boden, auf der Bank, unterm Arm des Polizisten.

Eine Minute, zweiundzwanzig Sekunden. Das Video wird am selben Abend über den Telegram-Kanal „Protestierendes Russland“ geteilt, das lokale Fernsehen berichtet unter dem Titel „journalistische Tragödie“. Der Name der Verbrannten: Irina Slawina, Journalistin und Redakteurin des Nachrichtenportals koza.press.

Am Tag zuvor, dem 1. Oktober 2020, war Slawinas Wohnung, nachdem Polizisten und Mitarbeiter verschiedener Behörden die Tür ausgehebelt hatten, durchsucht worden. Grund dafür war Slawinas Benennung als Zeugin in einem Verfahren gegen die von Michail Chodorkowski gegründete, als „unerwünscht“ eingestufte NGO „Offenes Russland“. Die Durchsuchung dauerte viereinhalb Stunden von sechs Uhr morgens an. Die „Zeugin“ stand nackt vor den Beamten und musste sich in ihrer Gegenwart anziehen. Sie wurde verhört, sie durfte keinen Anwalt rufen, ihr gesamtes Arbeitsmaterial, Mikrofone, Kamera, Computer und Festplatten, ebenso die von Tochter und Ehemann, wurde beschlagnahmt. Slawina stand damit für die mundtote gemachte Presse in Russland.

Russlands Gewerkschaft der Journalisten und Medienmitarbeiter forderte eine Untersuchung des Falls, ein Sprecher des UN-Generalsekretärs kondolierte Slawinas Familie. Wladimir Putins Sprecher Peskow kondolierte im Namen des Präsidenten, gegen dessen Politik sich Slawinas Fanal richtete. Putin selbst erklärte, dass er die Gründe für ihre Tat nicht verstehe, da gegen sie kein Strafverfahren eingeleitet worden sei. Er kam zu dem Schluss, dass die Journalistin eine labile Persönlichkeit gewesen sei und die Ermittlungsbehörden, die ihr das Leben zur Hölle gemacht hatten, keine Schuld trügen. Für den Tod von Irina Slawina wurde niemand belangt. Um so mehr wurden die 82 Sekunden für einen Moment zum Symbol für alle Ungerechtigkeit in der Welt.

Wenig setzt die Dramaturgie von Absurdität und Gewalt stärker um als diese Szene. Sie steht exemplarisch für das, was unabhängigen Journalisten in Russland droht. Widerstand wird zum Synonym für Verfolgung, Haft, sogar Tod. Dem entgehen kann man bestenfalls mit Flucht, schlimmstenfalls mit Suizid. Das erinnert an bekannte extreme Protestformen aus der bleiernen Zeit der der späten Breschnew-Phase.

Reporter ohne Grenzen“, die seit diesem August in Russland verbotene NGO, listete im Jahresabschluss 2024 auf, dass in Russland 38 Journalisten inhaftiert sind, darunter 19 ukrainische Staatsbürger. Das als „ausländischer Agent“ eingestufte Woronescher „Zentrum für den Schutz der Medienrechte“, gibt an, dass allein im letzten Jahr mindestens 45 russische Journalisten strafrechtlich verfolgt wurden. Im Pressefreiheitsindex belegt Russland Platz 171 – das ist der zehntletzte Platz in der Rangliste. Die wenigen Journalisten, die nach wie vor aus dem Innern des „freiesten“ Landes der Welt“ (Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin) berichten, befolgen ein spezielles Sicherheitsprotokoll: Sie arbeiten nicht dort, wo sie leben, sie verwenden ihre echten Namen nicht, sie haben die Kontaktdaten eines befreundeten Anwalts in ihrem – zum instantanen Löschen aller Daten präparierten – Telefon gespeichert.

Es ist müßig, immer wieder die Analogie des derzeitigen Russland zur Sowjetunion zu bemühen, doch es ist andererseits unumgänglich. Wo die UdSSR als Diktatur in einem permanenten Ausnahmezustand funktionierte, übernimmt die Russische Föderation demokratische Strukturen, die, verzahnt mit den Kontrollmechanismen eines autoritären Staats, der Verschleierung einer Diktatur dienen. Die von der russischen Verfassung garantierte „Freiheit des Gedankens und des Wortes“ ist der deutlichste Beleg dafür, denn sie existiert nicht mehr.

Zum Wesentlichen demokratischer Strukturen gehören freie Wahlen, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die unveräußerlichen Rechte auf den Schutz der Privatsphäre: Geheimhaltung von Kommunikation, informationelle Selbstbestimmung, Unverletzlichkeit der Wohnung. Die sowjetische Verfassung sah das ähnlich vor, gleichwohl war der Begriff „privat“ der Feind des für die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft unverzichtbaren Kollektivs. Das Private hat kein Recht im Politischen der Diktatur, was gezwungenermaßen das Private zum Politikum macht.

Wo das Privateste sich öffentlich begibt, kommen auch die öffentlichen Dinge privat zur Entscheidung und führen damit eine physische, politische Verantwortung herauf, die etwas ganz anderes als die metaphorische moralische ist. Es haftet die Privatperson für ihre öffentlichen Akte …“ Es ist 100 Jahre her, dass Walter Benjamin in einer Rezension des Briefwechsels zwischen Lenin und Gorki, auf die Durchdringung von Privatem und Politischem abhob. Dass Irina Slawina die „Haftung“ der Privatperson bewusst war, zeigt der letzte Post auf ihrer Facebook-Seite, bevor sie zum Ort ihres letzten öffentlichen Aktes ging: „Für meinen Tod bitte ich die Russische Föderation verantwortlich zu machen.“ In entschiedener Sachlichkeit reagiert sie auf den andauernden Terror der Behörden, dem sie ausgesetzt war, und der sie in die Selbsttötung trieb. Es ist dieselbe Entschiedenheit, mit der sie den, der die Flammen um sie löschen wollte, abwies.

Am 20. Juni 2019 schrieb Slawina auf ihrer Facebook-Seite: „Ich frage mich, ob es unserem Staat zu einer besseren Zukunft verhelfen würde, wenn ich mich vor dem Eingang des FSB (oder der Staatsanwaltschaft, ich weiß es noch nicht genau) selbst anzünde, oder wäre mein Opfer sinnlos? Ich denke, es ist besser, auf diese Art zu sterben, als so wie meine Großmutter, die mit 52 Jahren am Krebs zugrunde ging.“ Slawinas Tochter, Margarita Murachtajewa, sagte in einem Interview, dass das, was passiert ist, besser sei, als wenn ihre Mutter jetzt im Gefängnis säße. „Wenn sie jetzt noch leben würde, säße sie mit hundertprozentiger Sicherheit im Gefängnis. In einem Gefängnis kann jemand wie sie nicht überleben.“

Womöglich hat sie recht, denn die heutige Praxis der Inhaftierung politischer Gefangener in Russland beweist, dass dies ein langsamer Tod durch Folter ist. So stirbt qualvoll und schleppend Maria Ponomarenko, eine Journalistin aus Barnaul, die im Februar 2023 zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie in ihrem Telegram-Kanal über das Theater in Mariupol geschrieben hatte, das zu Beginn des Einmarschs in die Ukraine von russischen Truppen bombardiert wurde. Im Frühjahr 2023 wurde bekannt, dass sie während ihrer Überstellung in eine psychiatrische Klinik geschlagen wurde – unter anderem von ihren Ärzten. Im Sommer dieses Jahres unternahm Ponomarenko drei Selbstmordversuche.

Russische politische Gefangene werden hingegen häufiger getötet, indem man sie unerträglichen Haftbedingungen aussetzt, sie mit Kälte, Licht, Lärm, Nahrungsentzug foltert und ihnen die medizinische Versorgung verweigert. Ukrainische Gefangene werden zusätzlich dazu ständig geschlagen. So wurde im vergangenen Jahr die ukrainische Journalistin Wiktorija Roschtschyna in einem Untersuchungsgefängnis in der Region Perm getötet. Ihr verstümmelter Leichnam wurde ohne Gehirn, Augen, Kehlkopf in ihre Heimat zurückgebracht, offenbar um die Todesursache zu verschleiern.

Einem vergleichbaren Schicksal ist Irina Slawina durch den Freitod entgangen. Selbstverbrennung als bewusster Protest bleibt ein unlöschbares Feuer, komplementär zur „ewigen Flamme“, die für die staatlich anerkannten Helden in den Mahnmalen brennt. Für Irina Slawina gibt es kein Denkmal, nur improvisierte Gedenkorte, an denen Bürger Blumen ablegen, die von Polizisten wieder fortgeräumt werden. Inzwischen wurde das ursprünglich für ein Theaterfestival errichtete Denkmal von der „fröhlichen Ziege“ zum temporären Gedenkort erweitert. 2015 hatte Slawina koza.press gegründet, ihre eigene Internetzeitung, mit der sie auf das Widerständige und den Charakterzug des Bockigen und Zickigen anspielte. Koza ist das russische Wort für Ziege.

Am zweiten Todestag Irina Slawinas kam ihre Tochter mit einem Plakat zum Platz der drei ewigen Polizisten: „Sie hätte gesagt: ‚Fahr mit deinem Krieg zur Hölle, Putin!‘ Aber er hat sie vorher umgebracht.“ Murachtajewa wurde wegen „Diskreditierung der Armee“ zu einer Geldstrafe verurteilt. Slawinas Sohn meldete sich im selben Herbst als Freiwilliger für den Krieg gegen die Ukraine, um, wie er sagte, „das Vaterland vor dem Westen zu verteidigen“. Das Vaterland, das seine Mutter getötet hat und für das er nun ukrainische Mütter tötet. Bekannte von Slawinas Familie meinen, dass sie, wenn sie noch am Leben wäre, ihrem Sohn erklären könnte, was genau in ihrem Land vor sich geht. Vielleicht hätte sie es nicht nur ihm erklären können, aber sie ist nicht mehr da, und es ist ihr nicht gelungen, mit ihrem Tod eine bessere Zukunft für Russland herbeizuführen.

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