
Die russischen Behörden bemühen sich bis an den Rand ihrer Kräfte, Patriotismus und Pflichtbewusstsein in ihren Bürgern zu wecken, aber die Russen sind nach wie vor nur bereit, ihr Leben für Geld zu opfern. Mehr als zwei Billionen Rubel, also knapp 22 Milliarden Euro, hat Russland in der ersten Hälfte des Jahres 2025 für die Bereitstellung von Humanressourcen für den Krieg in der Ukraine ausgegeben, berichtet das Analyseportal Re: Russia. Dieser Betrag umfasst Bonuszahlungen für die Unterzeichnung der Verträge von Zeitsoldaten, Soldzahlungen und Entschädigungen für die Familien der Getöteten und Verwundeten, ohne Ausgaben für Waffen, Technik und Infrastruktur. Um eine zweite Mobilisierungswelle zu vermeiden, stocken die russischen Behörden die Armee hauptsächlich mit Personen auf, die einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen, was in der Definition dann dem Söldner näherkommt als dem Soldaten.
Das Jahreseinkommen eines Vertragssoldaten kann heute bis zu 4,5 Millionen Rubel (etwa 50.000 Euro) betragen, wenn er das Jahresende lebend erreicht – sollte er dies nicht schaffen, erhält seine Familie noch mehr. Das entspricht mehr als dem Vierfachen des Jahreseinkommens eines durchschnittlichen russischen Arbeitnehmers im Jahr 2024 und ist 5,5-mal höher als der mittlere Lohn in den Regionen Russlands ohne Berücksichtigung der vier reichsten Regionen, den Autonomen Kreisen der Jamal-Nenzen, der Nenzen, der Chanten und Mansen und schließlich Moskau, wo überall die Löhne deutlich höher sind.
In einer Art sozialen Wettbewerbs um die Lieferung von Kanonenfutter, erhöhen die Behörden der Regionen und nationalen Republiken die einmaligen Zahlungen bei Vertragsunterzeichnung kontinuierlich. So hat die Regierung der Region Swerdlowsk in diesem Jahr die Zahlungen von 1 Million auf 2,5 Millionen Rubel erhöht, in Primorje wurde von 1,4 Millionen auf 2,5 Millionen Rubel und in der Region Rjasan von 400.000 auf 1 Million Rubel erhöht. Sobald eine Region ihren Plan erfüllt hat, werden die Zahlungen wieder gekürzt, um zumindest ein wenig Geld für den defizitären lokalen Haushalt einzusparen. So wurden sie in der Region Nischni Nowgorod von 2,3 Millionen auf 1,5 Millionen, in Baschkortostan von 1,6 Millionen auf 1 Million und im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen von 3,1 Millionen auf 1,9 Millionen gekürzt, berichtet die russische Föderationszeitung Wedomosti. Das sind jeweils nur drei Beispiele, jedoch repräsentativ für das gesamte Land.
Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, erklärte, dass im ersten Halbjahr 2025 mehr als 210.000 Menschen Verträge unterzeichnet hätten, was in etwa den russischen Verlusten entspreche, aber nicht ausreiche, um die Eroberungsziele des Kremls zu erreichen. Deshalb seien die Behörden bestrebt, mit allen verfügbaren Mitteln „lebende Kräfte” zu mobilisieren.
Laut einer des russischsprachigen unabhängigen Online-Mediums Wjorstka („Layout“) werden gefangene Deserteure sofort in Sturmtruppen überstellt. Diejenigen, die aus der ukrainischen Gefangenschaft zurückkehren, werden unabhängig von ihrem Rang und ihrer Dienstzeit unmittelbar nach dem Austausch wieder an Frontpositionen eingesetzt.

In den Medien erscheinen regelmäßig Berichte über die Zwangsrekrutierung von Wehrpflichtigen zur Unterzeichnung von Verträgen. Im Juli dieses Jahres veröffentlichte das unabhängige Medienprojekt Wot Tak („So ist es“) Informationen über neue Fälle dieser Art aus Tschebarkul in der Region Tscheljabinsk, obwohl die Militärstaatsanwaltschaft Anfang 2025 diese Praxis für illegal erklärt hatte.
Wot Tak liegt der Text einer gemeinsamen Erklärung der Mütter und Schwestern von mindestens zwölf Wehrpflichtigen im Alter von 18 bis 21 Jahren vor. Sie behaupten, dass die jungen Männer in der Garnison von Tschebarkul zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen worden seien. In dem Brief der Angehörigen heißt es, dass physischer Druck auf die Rekruten ausgeübt wurde: Ihnen wurde mit Gummipatronen in die Beine geschossen, sie wurden durch nächtliche Übungen „bis zur Bewusstlosigkeit gedrillt“.
Auch Häftlinge in Strafkolonien werden mit Folter zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen. Nach Angaben des Projekts Sibir. Realii („Sibirien. Realitäten“) von Radio Liberty geschieht dies in Haftanstalten in mindestens drei Föderationskreisen – dem Wolga-, dem Zentral- und dem Sibirischen. Nach Angaben des Korrespondenten hat sich die Zahl der Häftlinge in einer Reihe von Kolonien seit letztem Herbst fast halbiert – Verdächtige und Angeklagte werden immer häufiger direkt aus der Untersuchungshaft an die Front gebracht. Gesprächspartner der Zeitung berichten, dass Verurteilte wahllos bis hin zu schweren Verletzungen geschlagen und in die Hauptstadt gebracht werden, wo ihnen bei Verweigerung der Unterschrift eines Vertrags damit gedroht wird, dass ihnen die Ohren abgeschnitten werden.
Aber auch diese Maßnahmen reichen nicht aus, um Freiwillige zu gewinnen. Im ganzen Land gibt es für Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden ein Prämien-System für die Auslieferung von Festgenommenen an den Krieg gegen die Ukraine. Wie eine nach Gesprächen mit Polizisten, Ermittlern, Anwälten und Richtern herausfand, werden pro Kopf zwischen 10.000 und 100.000 Rubel gezahlt. Den „Lohn“ erhalten also diejenigen, die die Festgenommenen überreden oder zwingen, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterschreiben.
Das ist ein nicht unerheblicher Zusatzverdienst, denn in Sankt Petersburg verdient ein Ermittler etwa 40.000 bis 60.000 Rubel monatlich, und für jeden für den Krieg Rekrutierten werden 35.000 Rubel gezahlt. In der Region Brjansk sind es bei einem Gehalt von ca. 38.000 Rubel 20.000 bis 30.000 Rubel für die Anwerbung. Tatsächlich erhält ein Ermittler für zwei Rekrutierte pro Monat mehr als sein Gehalt. Anstatt also Straftaten zu untersuchen, sind die Polizeibeamten eher daran interessiert, Rekrutierungsdienste zu leisten.

Es ist behördlicherseits auch praktisch geregelt: Die Polizisten sind verpflichtet, noch vor dem ersten Verhör eines Verdächtigen, ihm zusätzlich zur Aufklärung über seine Rechte den Abschluss eines Vertrags mit dem Verteidigungsministerium anzubieten. In den Krieg ziehen können alle außer Personen, die in Strafverfahren wegen Terrorismus, Landesverrat oder Spionage verwickelt sind, sowie mutmaßliche Pädophile. In der Realität wird jedoch jedem ein Vertrag angeboten. Etwa 12 % der im ganzen Land festgenommenen Russen sind bereit, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen.
Wenn ein Festgenommener sich bereit erklärt, in den Krieg zu ziehen, wird das Verfahren gegen ihn ausgesetzt, die Untersuchungshaft aufgehoben und die Strafverfolgung in der Zukunft aufgrund „nicht rehabilitierbarer Umstände“ eingestellt. Das heißt, aus Gründen, wegen der ein Verdächtiger keine Entschädigung vom Staat für ungerechtfertigte Strafverfolgung verlangen kann, aber dadurch einer Untersuchung, einem Gerichtsverfahren und einer Gefängnisstrafe entgeht.
Aber nicht nur die Haftanstalten, auch die staatlichen Unternehmen beteiligen sich an der Rekrutierung von Soldaten. Letzere haben etwa begonnen, Ausschreibungen für Dienstleistungen zur „Suche und Auswahl von Kandidaten” für den Abschluss eines Vertrags mit dem Verteidigungsministerium zu veröffentlichen, . Seit Ende Mai gab es drei Ausschreibungen der Städtischen Elektrizitätswerke von Chanty-Mansijsk für 15,5 Millionen Rubel. Für dieses Geld sollen Vermittler 90 Kandidaten an das Militärkommissariat schicken. Die Vergütung pro Person beträgt 150.000 Rubel. Eine weitere Ausschreibung für „Dienstleistungen zur Kandidatensuche“ wurde vom in der Region Wladimir veröffentlicht. Am 28. Mai schloss er einen Vertrag mit dem militärisch-patriotischen Ausbildungszentrum Wojewoda („Heerführer“). Für einen Kandidaten werden dort 300.000 Rubel angeboten.
Unternehmen, die Verträge mit Militärkommissariaten oder großen staatlichen Auftraggebern abschließen, stellen Personalvermittler ein, die in Telegram-Kanälen und VK-Gruppen Anzeigen für den Dienst auf Vertragsbasis veröffentlichen und dann Anrufe entgegennehmen. Jeden Tag konkurrieren sie mit Dutzenden ähnlicher Agenturen um die Aufmerksamkeit der Rekruten. Die Anzeigen sehen in etwa so aus: „Der Sieg ist nah, schnapp dir alle Vergünstigungen und Zahlungen“, Iwan. „Wir bieten individuelle Betreuung und Sicherheit!“, Arina. „Anrufe werden von 9.00 bis 00.00 Uhr entgegengenommen. Du kannst rund um die Uhr schreiben“, Oleg.
Die Anwerber arbeiten als Einzelunternehmer entweder direkt mit dem Militär zusammen oder über Vermittler, daher sind ihre tatsächlichen Verdienste nicht bekannt. Wjorstka berichtet, dass derjenige Anwerber, der am hartnäckigsten ist und den Kandidaten an die Front bringt, einen Prozentsatz der „Verkäufe“ erhält – zwischen 5.000 und 350.000 Rubel, je nach Status des Auftraggebers.
Die Rekrutierungsagenturen versprechen den Kandidaten, ihnen zu helfen, ohne Wehrpass und trotz Drogenproblemen, Hepatitis, HIV und Vorstrafen an die Front zu kommen. Sie versprechen auch, dass deren ältere Kinder einen Studienplatz bekommen und die jüngeren kostenlos in einem Sommercamp ihre Ferien verbringen können. Der Familie werden Schulden in Höhe von bis zu 10 Millionen Rubel erlassen und 1000 Quadratmeter Land zugeteilt. Gerichtsverfahren, sofern solche bestehen, werden ausgesetzt. Dies ist nur ein kleiner Teil der versprochenen Vergünstigungen.

Abgesehen davon gibt es eine Vielzahl interessanterer Möglichkeiten, mit der Lieferung von rekrutiertem „Frischfleisch“ an die Front Geld zu verdienen. Die Nachrichtenagentur der Republik Chakassien im April einen langen Artikel darüber, wie „Teilnehmer der Spezialoperation“, wie der Krieg noch immer offiziell euphemistisch heißt, zu einer neuen Risikogruppe geworden sind, die von Betrügern und Kopfgeldjägern gejagt wird. So agierte in der Region Primorsk eine Bande „professioneller Witwen“, die von einem Fähnrich der Artillerie-Division einer lokalen motorisierten Schützenbrigade zusammen mit seiner Frau, einer Buchhalterin, organisiert wurde. Sie warben Alkoholiker, Drogenabhängige und Obdachlose ohne Verwandte an und schickten sie in den Krieg, . Eine von ihnen ließ sich für den Betrug sogar von ihrem echten Ehemann scheiden. Anschließend wurden die Rekrutierten in Sturmtruppen geschickt, wo die Chance auf einen schnelleren Tod groß ist.
Eines der Opfer der Gruppe war ein alter Bekannter der Frau des Fähnrichs. Der Mann wurde überredet, einen Vertrag zu unterschreiben, mit dem Versprechen, dass er im hinteren Bereich dienen würde. Man überredete ihn zu heiraten, damit es keine Probleme mit der Auszahlung der Soldzahlungen geben würde (die Mutter des Mannes war ihrer elterlichen Rechte beraubt). Die Ehe wurde innerhalb eines Tages geschlossen – das Gesetz erlaubt dies für Teilnehmer des Krieges in der Ukraine. Die Frau erhielt Zugang zur Bankkarte ihres Mannes, der im September 2024 an die Front ging. Innerhalb weniger Monate gelang es ihr, mehr als 1,9 Millionen Rubel seines Soldes zu erhalten. Als sie erfuhr, dass ihm als Waisenkind eine Wohnung vom Staat zusteht, ließ sich die Frau eine Vollmacht ausstellen, kaufte mit dem Geld aus dem Wohnberechtigungsschein eine Wohnung für 1,5 Millionen Rubel in Ussurijsk und meldete sie auf ihren Namen an.
Dieser Fall ist keine Ausnahme, „Schwarze Witwen“ sind im ganzen Land tätig. Es gibt sogar noch effektivere Methoden als die oben beschriebene – erst kürzlich wurde bekannt, dass eine Krankenschwester eines Militärkrankenhauses schwerverletzte Soldaten heiratete, sie beerdigte und dann Entschädigungszahlungen erhielt, berichtet die föderale Medienagentur „Argumente und Fakten“, ohne den Namen der Krankenschwester und den Standort des Hospitals zu nennen. Sie suchte sich gezielt hoffnungslose Fälle mit schlechter Prognose als Ehepartner aus und schaffte es, ihr Manöver ganze fünf Mal durchzuziehen!
Wem das aus historischen Büchern über den Dreißigjährigen Krieg oder die Fremdenlegion bekannt vorkommt, geht nicht fehl. „Courage nennt man die Tapferkeit, für Geld das Leben einzusetzen“, heißt es in Bertolt Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“, womit das Motiv der skrupellosen Anwerbung wie auch das des Kriegsdiensts von Söldnern ganz realistisch und noch immer aktuell benannt ist.

Die Armee wird auch durch Migranten aufgestockt. In den letzten zwei Jahren wurden mehr als 90.000 Ausländer in Russland zum Militärdienst eingezogen. Ein Drittel von ihnen hat Verträge unterzeichnet. Zu diesem Zweck wurden in den Regionen 5.000 Razzien zur Suche nach Migranten durchgeführt, teilte der Leiter des Föderalen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, mit. Noch im Mai waren die genannten Zahlen um Zehntausende niedriger. Auf dem Petersburger Rechtsforum hatte Bastrykin von 80.000 „aufgegriffenen“ Migranten gesprochen, die registriert worden seien. Die Zahl der Bürger, denen „es aus irgendeinem Grund nicht gefällt, in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan zu leben“, und die an die Front geschickt wurden, belief sich auf 20.000. Allerdings gilt in Russland seit August 2024 ein Gesetz, wonach Ausländer, die die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben, diese wegen Verweigerung der Registrierung beim Militärdienst verlieren können. Der neue Gesetzentwurf legt das Verfahren zur Aufdeckung von Verstößen und zur Weiterleitung von Fällen an das russische Innenministerium fest.
Um den Druck auf diejenigen zu erhöhen, die sich weigern, sich zum Militärdienst zu melden, wurde in der Staatsduma ein Gesetzentwurf eingebracht, der es ermöglicht, ihnen deswegen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Es reicht aus, nicht zum Militärkommissariat zu gehen oder auf die Vorladung nicht zu reagieren – schon verliert man die russische Staatsbürgerschaft. Danach wird die Entscheidung an das Innenministerium weitergeleitet, und es drohen Abschiebung und ein Einreiseverbot.
Diejenigen, die auf der Seite Russlands in den Krieg ziehen, müssen sich darüber im Klaren sein, dass die russischen Behörden bereit sind, für die Rekrutierung von Menschen für den Krieg zu zahlen, aber sie sind absolut nicht bereit oder nicht in der Lage, die Soldaten mit etwas anderem als Munition zu versorgen. Von den ersten Kriegstagen an wurde klar, dass es der russischen Armee buchstäblich an allem mangelt – von Unterhosen und Socken bis hin zu Drohnen und Wärmebildkameras. Die meisten dieser Bedürfnisse werden von den Soldaten selbst, ihren Angehörigen oder Freiwilligen- und Wohltätigkeitsorganisationen gedeckt. Außerdem wird seit vier Jahren in sozialen Netzwerken, Schulen und staatlichen Unternehmen Geld für die Bedürfnisse des russischen Militärs gesammelt, was in der Bevölkerung eher Ärger als Unterstützung hervorruft.
Es sieht so aus, als ob die russischen Bürger hatten nicht erwartet hätten, dass ihr mit der ganzen Welt kriegführendes Vaterland ihnen nicht nur ihre Söhne, Ehemänner und Väter wegnehmen würde – das wäre noch halb so schlimm –, sondern auch noch tief in ihre Taschen greifen würde. Allerdings müssen sich die Bürger mit dieser Situation nun abfinden – das Haushaltsdefizit wächst, und die Behörden der Russischen Föderation haben nicht vor, den Krieg demnächst zu beenden.