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Tag der Verfassung

Am 12. Dezember 1993 wurde die Verfassung der Russischen Föderation in einer Volksabstimmung angenommen. Im folgenden Jahr – 2023 – wäre sie 30 Jahre alt geworden. Doch der russische Präsident Wladimir Putin hat das Grundgesetz seines Landes im Jahr 2020 selbst begraben.

Das Parlament der Russischen Föderation, die Duma, beschloss die „Nullstellung“ der bisherigen Amtsperioden des Präsidenten (Putin) und ermöglichte ihm zugleich die Präsidentschaft bis ins Jahr 2036. Entsprechend der geänderten Verfassung, kann Putin (der Präsident) noch einmal zweimal wiedergewählt werden. Voraussichtlich wäre das in den Jahren 2024 und 2030.

Zum Gedenken daran, dass Russland einmal eine Verfassung hatte, veröffentlichen wir das letzte Wort von Olga Misik, die eben diese Verfassung 2019 bei Protesten den Polizisten der Sondereinheit OMON vorlas. Im Jahr 2021 wurde sie von der Generalstaatsanwaltschaft zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Das letzte Wort der „Unbefristeten Protest“-Aktivistin Olga Misik

Ich wurde oft gefragt, ob ich Angst habe. Häufiger im Ausland als in Russland, denn sie kennen die Besonderheiten unseres Lebens nicht und wissen nichts von schwarzen Autos, die in der Nacht kommen, von Verhaftungen und Inhaftierungen ohne jeglichen Grund. Sie wissen nicht, dass wir das Gefühl der Ausweglosigkeit mit der Muttermilch aufgenommen haben. Und genau dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit lässt alle Erscheinungsformen der Angst verkümmern und infiziert uns mit erlernter Hilflosigkeit. Was nützt es, Angst zu haben, wenn die Zukunft nicht von einem abhängt?

Angst hatte ich nie. Ich habe Verzweiflung, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verlust, Frustration empfunden, aber weder Politik noch Aktivismus haben mich jemals mit Angstgefühlen infiziert. Ich hatte keine Angst, als bewaffnete Banditen nachts in unser Haus einbrachen und mir mit Gefängnis drohten. Sie wollten mir Angst machen, aber ich lachte, weil ich wusste, dass ich in dem Moment, in dem ich aufhöre damit, verloren hätte.

Als ich mit diesen Banditen in ihrem Gefangenentransporter nach Moskau fuhr, dachte ich, dass dies der letzte Sonnenaufgang sein könnte, den ich in den nächsten Jahren sehen würde. Ich erinnerte mich an meinen Vater, den ich zum ersten Mal weinen sah, an meine Mutter, die mir ins Ohr flüsterte: „Gestehe nicht“, an meinen Bruder, der zu meiner Datscha gerannt kam, an meinen Freund Igor, der auf dem Boden lag und die Fragen der Polizisten ignorierte. Ich war traurig und verletzt, aber nicht verängstigt.

[…]

Ich erinnere mich gut daran, wie ich zu der Protestaktion ging und mir versprach, dass dies das letzte Mal in meiner Aktivistenkarriere sein würde, dass ich mich danach aus der Politik zurückziehen und studieren würde. Ich war besorgt und ängstlich darüber, wie es laufen würde, aber ich hatte keine Angst. Und selbst nach dem Studium des Straf- und Verwaltungsrechts, nach all den Präzedenzfällen für ähnliche Aktionen, hatte ich keine Angst. Es war eine wunderschöne Nacht, und ich wusste, dass es meine letzte Nacht auf der Straße sein könnte, aber das machte mir keine Angst.

Erst nach der Durchsuchung, in den letzten neun Monaten, spürte ich ständig Angst. Seitdem habe ich nie wieder gut geschlafen. Jede Nacht wache ich bei jedem Rascheln auf, höre ständig Schritte im Flur, und das Knirschen des Kieses unter den Rädern der Autos vor dem Fenster versetzt mich in Panik. Und es scheint mir, dass sich die ganze Angst, die ich in den letzten neun Monaten angesammelt habe, hier und jetzt in meinem letzten Wort konzentriert. Denn öffentlich zu sprechen macht mir viel mehr Angst als ein Urteil. Mein Puls liegt bei 150 Schlägen pro Minute, und es fühlt sich an, als würde mein Herz zerspringen, ich habe sogar Gänsehaut auf meinem Kopf.

Manche sagen, es sei unmöglich, Angst zu haben, wenn man weiß, dass man im Recht ist. Aber Russland lehrt uns, ständig Angst zu haben. Ein Land, das jeden Tag versucht, uns zu töten. Und wenn man außerhalb des Systems steht, ist man schon so gut wie tot.

[…]

Natürlich war ich bei dieser Aktion dabei. Ich hatte ja keine Wahl und musste mein Bestes geben, also habe ich kein Recht, es zu bereuen. Und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es wieder tun. Wenn mir die Todesstrafe drohen würde, würde ich es wieder tun. Ich würde es immer und immer wieder tun, immer und immer wieder, bis es einen Unterschied macht. Man sagt, dass es Wahnsinn ist, dieselben Handlungen in der Erwartung eines anderen Ergebnisses zu wiederholen. Aber aufzuhören, zu tun, was man für richtig hält, auch wenn alle um einen herum denken, dass es nutzlos ist, ist erlernte Hilflosigkeit. Und ich bin lieber verrückt in Ihren Augen als hilflos in meinen.

[…]

Es wäre nicht einfach nur prinzipienlos gewesen, meine Beteiligung an der Aktion nicht zuzugeben. Es hätte all meine Bemühungen, all meine Ängste und Leiden, all meine Erfolge, meinen Schmerz, meine Wut zunichte gemacht. Ich kann mir die Skrupellosigkeit, mit der unser Ermittler und unser Staatsanwalt leben, nicht leisten. […]

Wenn Sie mir verbieten, mit der wichtigsten Person in meinem Leben zu kommunizieren, wissen Sie sehr genau, was Sie tun. Sie glauben, einen Menschen strafrechtlich verfolgen zu können, nur weil ich ihn liebe, und verbieten uns dann, miteinander zu kommunizieren. Sie können mir die Liebe nicht verbieten, Sie können die Jugend nicht verbieten, und Sie werden die Freiheit niemals verbieten. Sie werden die Wahrheit nicht verbieten.

Sie können sich gut vorstellen, dass dieser Prozess für Sie viel entscheidender ist als für mich. Ich habe mich schon vor langer Zeit für meine Seite entschieden, und nun ist es an Ihnen, zu entscheiden, welchen Weg Ihr zukünftiges Leben nehmen wird. Für mich bedeuten weder diese Debatte noch diese Ankündigung etwas. Sie fällen dieses Urteil nicht über mich – Sie fällen es über sich selbst.

Aus dem Inneren eines faschistischen Regimes heraus sieht es nie faschistisch aus. Es scheint eine kleinliche Zäsur zu sein, die Sie niemals berühren wird. Aber ich bin heute hier nicht der Angeklagte. […] Und Sie können sich nicht länger etwas vormachen. Sie wissen, was hier vor sich geht. […] Diejenigen, die sich jetzt für die Seite des Bösen entschieden haben, haben ihren Platz auf der Anklagebank schon im Voraus gebucht. Den Haag wartet auf alle, die an diesen Verbrechen beteiligt sind.

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Aus dem Inneren eines faschistischen Regimes heraus sieht es nie faschistisch aus. Es scheint eine kleinliche Zäsur zu sein, die Sie niemals berühren wird. Aber ich bin heute hier nicht der Angeklagte. […] Und Sie können sich nicht länger etwas vormachen. Sie wissen, was hier vor sich geht. […] Diejenigen, die sich jetzt für die Seite des Bösen entschieden haben, haben ihren Platz auf der Anklagebank schon im Voraus gebucht. Den Haag wartet auf alle, die an diesen Verbrechen beteiligt sind.

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Mein Anwalt hat heute über Sophie Scholl gesprochen, und ihre Geschichte ähnelt der meinen. Sie wurde wegen Flugblättern und Graffiti angeklagt, ich wegen Plakaten und Farbe. Im Grunde genommen werden wir beide wegen eines Gedankenverbrechens angeklagt. Mein Prozess ist dem von Sophie sehr ähnlich, und das heutige Russland ist dem faschistischen Deutschland sehr ähnlich. Selbst vor der Guillotine hat Sophie ihre Überzeugungen nicht aufgegeben, und ihr Beispiel hat mich inspiriert. Sophie Scholl ist der Inbegriff von Jugend, Aufrichtigkeit und Freiheit, und ich hoffe wirklich, dass ich in dieser Hinsicht auch so bin wie sie.

Das faschistische Regime ist schließlich gefallen, und das faschistische Regime in Russland wird auch fallen. Ich weiß nicht, wann es soweit sein wird – in einer Woche, einem Jahr oder einem Jahrzehnt. Aber ich weiß, dass wir eines Tages gewinnen werden, denn Liebe und Jugend gewinnen immer.

[…]

Sophie Scholls letzte Worte vor ihrer Hinrichtung waren: „Die Sonne scheint noch.“ Die Sonne schien tatsächlich noch. Man konnte sie nicht durch das Fenster des Untersuchungsgefängnisses sehen, aber ich wusste immer, dass sie da war. Und wenn wir uns jetzt, in dunklen Zeiten, diesem Licht zuwenden – bringt es unseren Sieg vielleicht ein wenig näher, immerhin.

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