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Tag 118

Schrecken des Krieges (2) //

nach Goya, Ukraine 2022 //

„Mariupolis“ nannte der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius den Ort, an dem ihn russische Truppen am 2.4. 2022 exekutierten. Mariupolis, die gewesene, Stadt Marias, Stadt, die wiederkommt.

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Ich erinnere mich an schwarzweiße Reproduktionen von Stichen und Gemälden, die ich als Kind in Büchern sah, und deren nicht vorhandene Farbigkeit eindringlicher war als die tatsächliche, die ich später entdeckte. Sogar die Betrachtungen der Originale im Museum, konnten die Enttäuschung nicht aufheben. Das Schwarzweiß der Kindheit war stärker als jede „echte“ Farbe und damit auch wirklicher.

Ich ging noch in die Schule, als Goyas „Caprichos“ und „Schrecken des Krieges“ als Paperbacks von Diogenes in den Buchläden lagen. 9,80 M (Mark der DDR) war der Preis. Ein Zehntel ungefähr des Lehrgelds, das Schüler ab Klasse 11 bekamen; Abiturienten waren damit Lehrlingen in der Ausbildung gleichgestellt. Absolut modern und ein Schritt fort in der sozialistischen Richtung, die, gesetzmäßig, zum Kommunismus führte. Das war besser als ein Taschengeld. Aber seltsam, dass historische Aquatinta im Osten in Westbüchern verkauft wurde. Unser Kunstlehrer legte das als ideologische Reaktion auf den Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan aus.

1979/80 hatten wir ein neues Fach bekommen, Wehrerziehung. Wir lernten schießen mit Kalaschnikows, kletterten durch Panzerattrappen, liefen mit den zerschnittenen Feinstrumpfhosen unsrer Mütter gegen NATO-Gasangriffe vorm Gesicht durch das Berliner Umland hoben Gräben aus, in denen wir vor dem Atomschlag Schutz finden konnten und lernten alles über den kommenden Weltkrieg. Der kam nicht, nur die Mauer fiel, ein paar Jahre später. Es blieb weltweit, relativ, friedlich.

Nach der Schule, da stand die Mauer immer noch, entdeckte ich auf dem Dachboden meiner Großmutter in der Stadt Gera einen Koffer mit Post aus 100 Jahren. „Untermhaus“ stand auf dem Koffer, ich dachte, ah, aus dem Keller, Luftschutzkeller geborgen. Er war voller Papier, Fotografien, jede Menge gezeichneter Postkarten darunter, signiert mit Dix. Otto war ein Cousin meiner Großmutter, die seine Kinderzeichnungen und unter anderm eine Sammlung krasser Radierungen in einer zerfledderten Ausgabe, die mich wegen der Gasmaske auf dem Titelbild ansprang, im Koffer verwahrt hatte. „Radierwerk“ war die Reihe der Blätter, die aus dem Buch fielen, sobald man es aufschlug, benannt. Ich erinnere mich, dass ich lange in einem ausrangierten Schaukelstuhl saß und durch die Bilder blätterte.

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Man kann sie übereinanderlegen, Goyas „Desastres“, Dix‘ Serie „Der Krieg“ und Callots „Grandes Misères de la guerre“, der Reigen aus dem Dreißigjährigen Krieg, der allen vorangeht, und hindurch scheinen Kiew, Charkiw, Tschernihiw, Irpin, Bucha, Mariupol, Cherson, Kramatorsk, Mykaolajiw, Sumy, Ochtyrka … alle zerschlagenen Städte, Vorstädte, Dörfer, und ihre massakrierte Bevölkerung zwischen allen Kriegen und heute.

Städte mit Namen, die uns erst aus ihrer infrage gestellten Normalität heraus etwas sagen, Städte, von denen wir jetzt erst hören, weil sie zerstört worden sind und zerstört werden aus einem einzigen Grund, der Willkür.

Durch Dix und Goya scheinen auch Kabul und Aleppo und Bagdad. Wir kennen die Bilder, sie kommen aus ferneren Regionen, ferneren, in der Geschichte vermeintlich geparkten Kapiteln. Syrien und Afghanistan sind die sogenannten anderen Kulturen – sind wir von ihrer Perspektive aus gesehen auch. Das Schlachtfeld Ukraine liegt näher an uns, topographisch, kulturell, mental und historisch. Unterm Mikroskop der Geschichte betrachtet ein „histologisch identischer“ Schnitt. Ein Außenposten der Festung Europa, die auch gegen Syrer und Afghanen, gegen die Afrikaner aller Nationen (nicht Klassen) verteidigt wird von den Ukrainern.

Der Horror steht in der Haustür, wir brauchen kein Reisebüro, und nur ein Land, das mehrfach innerhalb Europas gänzlich verschwundene „geteilte“ Polen, liegt zwischen uns und dem Land, das der Krieg überzieht und dessen Verschwinden jetzt Staatsdoktrin in Russland ist. Übersetzt in Literatur, die auch in deutscher Sprache von ukrainischem/rumänischem Territorium, der Bukowina, kam, heißt das, dass dieses Land auch unser Land, unser Land auch ihr Land war, und europäisch, aber derzeit euphemistisch gesprochen: ist.

Die Ukraine ist auch unser Schlachtfeld, unser Kornfeld, überdüngt mit Blut. Das Blut, das dort vergossen wurde und jetzt wieder wird, ist zumeist ukrainisch. Die Bloodlands, von denen Timothy Snyder spricht, sind von der Geschichte der Deutschen und ihrer Volksgruppen – ein Kompositum, das nähere Betrachtung lohnt – nicht zu lösen. Ein Sprachproblem ist immer ein Verständigungsproblem und ein Verständigungsproblem ist ein politisches Problem. So seltsam, altertümlich, reaktionär das klingt, so alt, so verwurzelt und so relevant ist es eben auch.

Der ganze Komplex sowohl des militärischen als auch zivilisatorischen Konfliktpotentials ist, mit Schuld und ohne, mit Sühne und ohne, ist auch unser Komplex. Und jede deutsche Stadt, von Dresden oder Heilbronn 1945 bis Magdeburg 1631, kennt die Schrecken des Krieges und die Bilder der Schrecken aus dem letzten Jahrhundert und den Jahrhunderten davor.

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Vom ausradierten Mariupol in Donezkgebiet am Asowschen Meer hab ich bis kurzem nie gehört. Aber was besagt das? Von Aleppo hatte ich vor seiner Zerstörung auch nichts gehört. Coventry, Guernica waren vor einer Kunstunterrichtstunde kein Begriff. Leningrad, die Blockade, Stalingrad und das Stahlwerk kamen in Geschichte dazu. Dresden, ja, kannte ich, in Berlin sah ich als Kind genug Ruinen und wohne noch in einem Haus, dessen zwei oberste Stockwerke der Krieg abgetragen hat. Sie wurden später wieder aufgesetzt, wenn die Straßenbahn vorbeifährt, beben die Wände leicht. Die Narrative kehren sich ins Gegenteil.

Es gibt ein Blatt in Goyas Serie, das dreißigste, das „Estragos de la guerra“ unterschrieben ist, „Verwüstungen des Krieges“, und das näher an uns ist, als die anderen Blätter der Serie, so nah an uns wie unser Zimmer. Wie alle Blätter der „Desastres“ zeigt auch dieses eine Komposition aus Mensch und Material, ein Knäuel, eine Verknotung, einen Haufen, zu Haufen geworfenen Körper. Jeder dieser schrecklichen Haufen ist Geschichte, jeder dieser Haufen birgt Einzelne, jeder Einzelne birgt ein Schicksal, eine Verkettung von Schicksalen, Biographien und sie säumen die Geschichte von Beginn an dessen, was wir noch immer Kultur nennen. Auch der Krieg ist ein Kulturereignis. Krieg ist Gewaltkultur. Krieg hat eine Ästhetik – Ästhetik des Angriffs, der Verteidigung, von Strategie und Taktik, Ästhetik der Zerstörung. Und es gibt eine Ästhetik der Faszination an all dem. Eine Faszination an Gewalt und Zerstörung, die uns faszinieren, weil sie wie ein Schockmoment alle anderen Gesetzmäßigkeiten und Zwänge außer Kraft setzen

Die Radierung ist etwas wie das graphische Äquivalent zur Bombardierung. Der harte Strich, die Kontraste, Schraffur, Stahl, Eisen, Kupfer, das auch das Material von Rüstung und Bewaffnung sind, die Präzision des Strichs, die Ätzung in der Druckplatte, alles zitiert die Wunde

Einen nicht unwesentlichen Teil meiner Kindheit habe ich auf Realitätsflucht in den türkisenen acht Bänden von Meyers Neuem Lexikon verbracht. Goyas Radierungen sah ich dort zum ersten mal und auch „Der Krieg“, das Triptychon von Dix in einer Reproduktion von faszinierend grauenhafter Farblichkeit. Am schockierendsten die zerschossenen Beinen eines Toten, die zum Himmel zeigten aus der Mitte des Bildes. Die Gliedmaßen leuchteten so verstrahlt wie die Bände des Lexikons, in der Sprache meiner Eltern „sowjetisch grün“.

Die Bildwelt der Kindheit kommt zurück mit der Bildwelt des Krieges von heute. Der Krieg in der Ukraine brauchte nur ein paar Tage, um die Schrecken, die Goya und Dix in Kunst übersetzt hatten, zurück in die Realität zu holen.

Der Sessel auf Nº 30 von Goyas „Desastres“ ist ein Lesezeichen der Realität. Das Chaos der Körper, von Granaten getroffen, Trümmern erschlagen, erschossen, Mauerwerk und Gebälk eines Hauses im urbiziden Furor einer Besatzungsarmee, die als Befreier ausgewiesen nicht weiß, wen und was sie im Nachbarland befreien soll.

Die Spuren der Belagerung von Saragossa durch Napoleons Truppen 1808, die Goya zeigt, sind den Spuren der Belagerung von Mariupol oder Cherson 2022, so sehr ähnlich, dass sie sich gleichen. Mit der Aufhebung der Ordnung, der Schwerkraft, der Anatomie, mit der Aufhebung der gewohnten Wirklichkeit zugunsten einer ungewohnten irrationalen Realität – der „Ordnung der Krieges“ – greift das Bild die Wirklichkeit an und stellt sich gegen die Realität, gegen die Verwüstung des Krieges.

Wir sehen die unmittelbare Wirkung des Bombardements durch die französische Artillerie auf die Zivilbevölkerung. Wir sehen die Trümmer, Menschen, im Moment des Aufpralls der Geschosse, wir sehen die Frau, die immer noch fällt. Wir sehen die Frau, die ihr Kind gestillt, hat, wir sehen den Säugling am Boden. Der festgehaltene Moment ist der radikale, unmittelbare, Folge der Explosion, die nicht abklingt. Ein Filmstill in Kupfer gestochen.

Die „Verwüstungen“, die hier Verwerfungen sind, bilden den Schock durch die fallenden, aus dem Leben gerissenen, zergliederten Körper ab, durch die verrückte Position des Möbelstücks, das wie das Zitat einer Höllenfahrt den Zusammensturz, am Ende auf dem Schutthaufen liegen und dort gefunden werden wird. Um 1800 war der Sessel ein Gegenstand der Moderne, sozial wie ästhetisch, und Goya hebt ihn als das zerstörte Recht auf Leben ins Bild. Der Sessel verkörpert den bürgerlichen Anspruch auf Wohnen in der etablierten, auch bequemsten Form, Thron und Ruhesitz zugleich. Der Sessel ist Instanz, Instanz der kleinsten Zelle der Gesellschaft, der Familie. Goyas Sessel ist der Sessel von Mariupol.

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