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Mahnmal für ein Mahnmal

Irène Bonnaud

Als ich als Teenager zum ersten Mal nach Berlin kam, fand ich die Stadt unverständlich und heruntergekommen. Berlin hat mir sofort sehr gut gefallen, genau deshalb. Viel besser als meine Heimatstadt Paris, früher die Hauptstadt und heut ein Museum des 19. Jahrhunderts. Meine Mutter, die in der Verwaltung des Auswärtigen Amtes arbeitete, nahm mich immer mit, um den Tag in Ostberlin zu verbringen, und wir schafften es nie, das Geld vor Mitternacht auszugeben. So landeten wir in der Bar eines Hotels Unter den Linden, wo wir den Rest für Cocktails auf den Kopf hauten. Ich hörte, wie der kubanische Barmann mit meiner Mutter auf Spanisch sprach: “El clima aquí, señora, es duro, muy duro.”

Später, Anfang der 90er Jahre, war ich Studentin an der Humboldt-Universität, und die Stadt für mich eine einzige Nachbarschaftsbuchhandlung, die all die Nachlaßbibliotheken der DDR für fast umsonst verschleuderte. Es gab Goethe & Co in der Großen Hamburger, eine andere, in der Linienstraße, mochte ich am liebsten, und für verzweifelte Fälle musste man sich ins Hinterzimmer der Karl-Marx-Buchhandlung begeben. Mittlerweile sind die meisten Buchhändler liquidiert worden, dafür landen Bücher immer öfter als Dekor in Cafés und allen möglichen Geschäften.

Ich habe mir auch immer die zerlesenen Bände angesehen, die vor der Universität auf Tischen gestapelt waren, nur habe ich dort, weiß nicht warum, nie etwas gekauft. Mein liebster Ort war das Mahnmal im Hof der Uni, auf dem die Namen antifaschistischer Widerstandskämpfer standen: „Ihr Tod ist uns Verpflichtung“, hieß es da. Ich fand sie schön, diese Formel (später schrieb ich auf den Bänken im Hof eine Arbeit über „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss), und mir gefiel, dass auf dem Mahnmal die Amerikanerin Mildred Harnack-Fish erwähnt wurde. Als Mitglied der Roten Kapelle am 16. Februar 1943 im Gefängnis von Plötzensee enthauptet – eine Heldin in Ostberlin aus Milwaukee/Wisconsin, wo es seit 1986 jährlich einen „Mildred Fish Harnack Day“ gibt.

Ihre Artikel über amerikanische Literatur wurden im Aufbau Verlag veröffentlicht (das Buch fand ich bei dem antiquarischen Herrn in der Linienstraße), und ich sah, dass sie „Drums Along the Mohawk“, den Bestseller der 1930er Jahre über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, ins Deutsche übersetzt hatte. Ich habe den Roman nie gelesen, aber es wurde einer der schönsten Filme von John Ford, sein erster in Farbe, von dem die Cinémathèque Française die Originalkopie der Technicolor-Labore besitzt. Ich sehe diesen Film in Paris so oft ich kann, die Farben leuchten wie am ersten Tag, nur die Rollen sind ein wenig zerkratzt …

Jedesmal, wenn ich am Namen Mildred Harnack-Fish vorbeiging, fragte ich mich, was sie von diesem Film gehalten hätte, wenn sie ihn hätte sehen können, als er 1939 herauskam. An einer Stelle gibt es eine Anthologie-Sequenz, eine große fürchterliche Schlacht, die man nicht sieht: Ford filmt Henry Fonda, der erschöpft alles erzählt, Minuten lang in einer Standbildaufnahme. Und am Ende zeigt er eine schwarze Magd, einen Indianerhäuptling und Claudette Colbert, die zu dritt die Vereinigten Staaten von Amerika gründen. Es ist albern, es bringt mich zum Weinen, auch weil ich an Mildred auf dem Denkmal denke, gut versteckt hinter der Humboldt-Universität.


Irène Bonnaud, geboren in Paris, lebt und arbeitet als Übersetzerin und Regisseurin in Athen.