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Betrachtung eines Denkmals

Irina Rastorgueva

Mehr als in jedem anderen Land spürt man bei den Deutschen den Unterschied in der Bewertung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten. Diese bewundernswerte Meinungsvielfalt wurde nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland noch einmal besonders auffällig. Vor allem für jemanden, der wie ich aus Russland kommt.

Der Ernst-Thälmann-Park und das dazugehörige Monument wurden zum leuchtenden Beispiel für die Begegnung gegensätzlicher Ideologien. In der DDR war Thälmann der von den Nazis ermordete Kommunistenführer und ein idealer Nationalheld. Er starb dafür, dass er seinen Idealen treu geblieben war: „Wenn ich sage, dass ich den Sinn des Lebens im Kampf für die Sache der Arbeiterklasse sehe, werdet ihr mich kaum verstehen.“ Das scheint heute leider mehr als je zuvor zu stimmen.

Der kommunistische Märtyrer hatte ein beachtliches Nachleben in nach ihm benannten Straßen, Plätzen und Parks der DDR, in Denkmälern und Schreibtisch-Büsten, in Schulen, Bibliotheken und Parteibüros. 1986 wurden anläßlich seines 100. Geburtstages in Berlin und Moskau zeitgleich Thälmann-Statuen enthüllt. In Moskau waren Gorbatschow, Honecker und die Thälmanntochter Irma dabei. Der bronzene, fünf Meter hohe „Teddi“ steht dort nach wie vor aufrecht, der Jackettzipfel weht, die Faust ist oben und der Blick unter der Schirmmütze geht starr über den Leningradski Prospekt Richtung Westen.

Nun sind Gorbatschow und Honecker und viele andere im Abseits oder ganz verschwunden, die Mauer und der Eiserne Vorhang sind gefallen; Thälmann dagegen steht immer noch und blickt ins Irgendwo, vielleicht in eine helle Zukunft. In Moskau wird er, wie viele andere Denkmäler der kommunistischen Ära, in Ruhe gelassen. Ständig versammeln sich Studenten um den Fünf-Meter-Riesen, Geschäftstreffen werden vereinbart und das Leben brodelt unter seiner Faust, die sich über der Einkaufsmeile „Aeroport“ motivierend hebt.

In Berlin verfolgt der Ärger Thälmann auch nach seinem Tod. Lew Kerbels Skulptur wird nicht als Hommage an den heldenhaften Kämpfer gegen den Faschismus wahrgenommen, sondern als ein obszön verdichtetes Werk monumentaler Propaganda. Das Denkmal selbst ist mit Graffiti überzogen, und dahinter befindet sich ein verlotterter Park und ein veralgter Pfuhl, der mal ein Teich war. Ältere Berliner ärgern sich über den Proletariergruß der „Rot-Front-Genossen“-Faust. Die Geste scheint ihnen aggressiv.

Und was werden wir unseren Kindern über Thälmann erzählen? Der Typ mit der Faust da, wer ist das? Ein Anführer, aha. Ein Kommunist? Was ist das? Was sage ich meinem fünfjährigen Sohn auf seine Fragen? Vielleicht: „Thälmann war einer von denen, die im letzten Jahrhundert gegen die Nazis gekämpft haben. Er saß elf Jahre im Gefängnis und wurde in einem Konzentrationslager erschossen“. Und ich werde ihm vom Nationalsozialismus erzählen, von der Roten Front, von Hitler, Stalin, vom Zweiten Weltkrieg. Es ist alles Teil seiner Geschichte wie dieses Denkmal, nicht weit von wo wir wohnen.

Meine, während der Perestroika in die Welt gesetzte Generation, trägt den Code des Totalitarismus in sich wie die Generationen davor und Generationen danach. Der Code ist weder schlecht noch gut; wie damit umzugehen ist entscheiden die Nachfolgenden selbst. Um das tun zu können, müssen sie wissen.

Irina Rastorgueva, in Jushno-Sachalinsk geboren, arbeitet als Bildende Künstlerin, Autorin und Filmemacherin seit drei Jahren in Berlin und hat vor, länger zu bleiben.