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Tag 92

Arbeiterkinder /

17.06.1953 /

Heißer Morgen, kurz nach zehn, die Uhrzeit wie vor 68 Jahren ist dieselbe. Die Kränze sind und auch die Rosen um die Platte ausgebreitet, Ecke Wilhelm-, Leipziger Straße: Platz des Volksaufstandes von 1953, vor dem Bundesministerium für Finanzen im Detlev-Rohwedder-Haus, der früheren Zentrale der Treuhandanstalt, die in das frühere Haus der Ministerien der DDR, dem früheren Sitz der Sowjetischen Militäradministration, dem früheren Hauptgebäude des Nationalsozialistischen Reichsluftfahrtministeriums, das das frühere Preußische Kriegsministerium ersetzt hat, 1990 eingezogen war, schwappt eine Schulklasse, neunte oder zehnte, an. Hauptsächlich Jungs, hauptsächlich, nach Äußerem, Slang und Akzent zu urteilen, aus anderen Erdteilen kommend. Kinder vom Olymp eher als Kinder Europas.

Wie seit Schuljahrhunderten üblich stehen zwei Mädchen und ein Junge dicht bei ihm und hören zu oder tun, als ob sie zuhörten. Der größte Teil versammelt sich am Becken, in dem das 25-Meter-Foto der Demonstrierenden vom 17. Juni von vor 68 Jahren unter Glas liegt, in dem die Umgebung sich spiegelt. Die Sonne strahlt, gleißt von der bruchsicheren Platte zurück. Auf der Straße kaum Verkehr, ein Polizist schlendert vorbei, der Lehrer wischt sich den Schweiß.

Die Schüler umrunden das Denkmal. Einer rotzt auf die Platte, zwei lachen, der Lehrer sieht weg. Wem sollen sie, die aus Syrien, Afrika, vom Balkan aus der Türkei oder sonstowher kommen, hier gedenken? Warum? Wer bringt sie mit dieser – die wir unsre, ich meine – Geschichte nennen, zusammen? Wie? Sie starren ins Glas, die kühle Fassade des Nazibaus an. Die MALL OF Berlin gegenüber verspricht mehr.

Die Spucke verrinnt auf dem Glas wie eine Wolke im Spiegel, in dem sich auch Lingers Relief in der Vorhalle zeigt, Arbeiterkinder um 1950 auf Porzellan aus Meißen. Einen Moment zu lang zögere ich, das  zu fotografieren: das gespiegelte Relief, den Rotz auf der Platte, der über das Gesicht eines der dort unter Glas geschreinten rinnt. Zufällig sieht es aus wie das eines Kindes.

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