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Tag 88

Das Berlin, das ich meine (III)/

Sie konnte die Treppen nur noch rückwärts runtergehen, eigentlich fuhr sie Rollstuhl. Am liebsten wollte sie schwimmen.

Sie wohnte im vierten Stock und schleppte sich und ihre Krücken täglich einmal, einmal mindestens, runter und hoch. Hilfe lehnte sie jedesmal ab, außer wenn es um den Korb ging, in dem die Bierflaschen schwankten. Sie hatte immer gute Laune, „is ejal wie 88“ war ihr Spruch, an dem sie sich durchs Leben und über Treppen hangelte. Rollator gabs noch nicht und Fahrstuhl war nicht vorgesehen.

„Heute dacht ick, ist der Mittwoch wieder lang, dabei war schon Donnerstag.“ Sie redete immer. Treppauf, treppab. Immer. „Schwimmen, könnt ick schwimmen, müsst ick nich loofn und hätt Jewicht ooch keens.“ Weil sie taub  war, war auch Beiseitesprech ein Brüllen, wir hörten sie hinter der Tür, durch die offenen Fenster. „N Leben, wisch, weg wie Dreck im Besenschwung.“

„Berlin am Wasser“ und „Vertrauen wagen“ waren zwei Aufkleber an ihrer Tür in wenig aufkleberfreundlicher Zeit, 1984 in Berlin, Hauptstadt der DDR. Der dritte Aufkleber: „Vorwärts zum Pfingsttreffen der FDJ“. Sie dürfte um die 70 Jahre alt gewesen sein.

Wir wohnten in einem Haus in der Wedekindstraße, parallel zur Karl-Marx-Allee, ein Bau im heute exklusiven Stalinstil, der sich vereinzelt von der Weberwiese die Marchlewski lang durchs Hinterland zieht. Abseits der Arbeiterpaläste implanierte, leicht verfallene Kleinstadt. In den „vom Kuchen übriggeblieben Streuseln“ wurde 2005/06 gedreht. Die Realkulisse stellte ostberlintypischen Altbau, der mehr Prenzlauer Berg als Friedrichshain meinte, vor.

Sie war eingezogen, „bevor die Türen drinnen waren, 53 im Oktober“. Sie war bei der Post und während sie bei der Post war, hat sie den Block mitgebaut. „Kinder nee, n Mann ja, aber …“

Hinter der Vorderfront des Hauses sollte sich das „Leben der anderen“ abspielen, zu denen sie, deren Namen ich nicht mehr weiß, wie auch wir gehörten. Der Film, dessen Verdienst es war, den Graben zwischen dem ostdeutschen Staat, der nicht mehr existierte, und dem westdeutschen, der jetzt der ganzdeutsche war, mit ästhetischem Zement auszugießen, war kommerziell erfolgreicher als die meisten deutschen Filme der Zeit.

Wenn sie im Treppenhaus unterwegs war, von oben runter halbe Stunde, aufwärts etwas schneller, roch es durch die Türritzen nach Kampfer, wir hörten ihr Schnaufen, Gesinge, Gemecker, Gelächter, wir sahen, wenn wir an ihr vorübermussten, ihre Perücke, falschrum oft, Pony hinten, vorn was längeres, und wenn sie schwitzte, nahm sie das Ding ab und wedelte sich damit frische Luft zu, die so oder so nicht zu haben war.

Unsre Fensterbretter waren schwarz vom Heizkraftwerk am Ostbahnhof, das damals noch nicht Berghain hieß.

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