Tag 72von ModellBerlinApril 2, 2021Februar 3, 2022 Maria Sie hob die Taschen auf und ging. Dann kam das Erinnern.Wieviele sie geboren hatte, wußte sie lange nicht mehrAls sie die Nachricht bekam vom Tod ihres ersten, ganz in der NäheIm Zentrum, erledigt mit drei Hammerschlägen.Daß er ein krankes Herz hatte, fiel ihr jetzt wieder ein. Wie oft entbunden von wievielen, wußte sie nicht, sie zählte sieDas jüngste wiegend auf dem Schoß, mit beiden Händen.Väter hatte sie zu zählen aufgehört, nur den einenSah sie deutlich: weißbärtig und träg, lange her. Als sie am Nachmittag (seines Todes) das Kleine im Tuch vor der BrustDie S-Bahn nahm, strömten die Leute wie gewohnt ihr entgegenDaß sie Mühe hatte, die Kreuzung zu finden. Alles hatte sich so sehr verändert. Wie noch wissen, wo der Platz gewesen war? Die GegendKannte sie vom Hörensagen, starke GeschichtenDie öfter vom Sohn, dem ältesten, erzählten, aberwitzigesDas ihr Angst machte im Herzen. Alles, was sie hatteHatte Platz in einem Einkaufswagen, den schob sie vor sich her Gut, sich an etwas halten zu können. Freitags war es kaltWie immer, die Leute hetzten in ihr Wochenende, auchWenn die Pest umging das zweite Jahr. Sie sahen gleich ausFast alle. Wie ihr Sohn gepredigt hatte, so oder so ähnlich. Sie wollte nicht bei allen andern liegen, hier, die ihre BecherVor den Türen ausstellten. Sie nicht. Manche schienen sieZu kennen, eine Zeitlang, keine Ahnung woher. Sogar ihren NamenSprachen sie aus, und mancher waren unter denen war einmalIhr Kind gewesen, Mann oder Frau, die sich nun schämten Sich nicht zu erkennen gaben. Alt wie sie war, mit dem Kindlein im ArmKonnte sie kaum die, von der sie redeten, sein. Man wußte ja nichtWelche Krankheiten sie hatte, welche Sprache sie sprachVor sich hin, und sie stank und war schmutzig, daß es spät für Mitleid war. Trotzdem, als es Nacht wurde über dem Platz, auf dem nichts mehrVom Sterben ihres ersten zu erkennen war, unter all dem BeiwerkDen Kreuzen, Blütenblättern, Zweigen, Kerzen und Tafeln ringsum Als sie sich die Treppen hoch und runter schleppte, fühlte sie, andersAls sonst, in ihrer Müdigkeit etwas, das sie früher Stolz genannt hätteAls sie den Namen hörte, wieder und wieder, den sie ihm gegeben hatteJahre, Jahrzehnte zuvor, als die Glocken geschrien hatten wie jetzt. Schlagwörter:tagebuch