Zum Inhalt springen

Tag 66

Zonen der Unsicherheit. Leipziger Straße/Wilhelmstraße/

In einem Ausstellungstext von 1990 schreibt Heiner Müller: „Nach Abschied vom Gleichgewicht des Schreckens betreten wir eine Zone der Unsicherheit.“ Die Zone der Unsicherheit existiert noch, derzeit dehnt sie sich aus und ist im Bild Berlins ablesbar an seinen neuralgischen Punkten. Solche Punkte sind, immer noch, in Nähe des früheren Grenzverlaufs auf der Straße zu finden. Das eigentlich Unsichere ist ungleich schwerer auszumachen in einer Metropole, die mit Recht als Hauptstadt der Neurosen bezeichnet werden kann. BERLIN TWOHEARTED CITY ist Müllers Text überschrieben (ein Titel, der einfach unmöglich ist).

Die Zone der Unsicherheit, die das Weichbild Berlins umschließt, ist nicht neu; sie ist Grundlage und Konstitution dieser Stadt. Was Benjamin im Denkbild „Marseille“ anmerkt: „Weichbilder sind der Ausnahmezustand der Stadt, das Terrain, auf dem ununterbrochen die große Entscheidungsschlacht zwischen Stadt und Land tobt“, kann vielleicht für alle Städte gelten, aber keine Stadt baut auf diesen Ausnahmezustand so sehr wie Berlin.

Das Land spielt längst keine Rolle mehr, die Entscheidungsschlacht ist längst geschlagen und der Sieger heißt Status quo. Wie genau er sich definiert abseits der Improvisation, kann niemand sagen. Das macht auch den großen Sympathievorrat dieser Stadt aus, ihren schwer berechenbaren Magnetismus, dem zwischen 1961 und 1989 viele, und wesentlich mehr noch – weil sie jetzt erst konnten – ab 1990 erlagen. Vor allem, wenn sie im Gefolge der Kunst kamen, die einen wesentlichen Teil der Schlacht um Berlin immer noch ausmacht.

„Die Freiheit gibt der Kunst das Element der Gefahr zurück“, erinnert uns Müller im seinem Text, der als Präambel des ersten berlin-berliner Ausstellungsprojekts mit dem zweifelnden Titel DIE ENDLICHKEIT DER FREIHEIT im Katalog steht. Der Katalog ist eine 240 Seiten umfassende Broschüre, die, oft in die Hand genommen, oft vom Regal gefallen, in 240 Einzelteilen plus Umschlag vor mir auf dem Schreibtisch liegt. Ich kann in der Zufallsordnung der schwarzweißillustrierten Seiten wühlen, ich finde Susan Sontags Beitrag, ein Dramolett, das Pyramus und Thisbe und die Mauer aus Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM in Berlin auftreten lässt. Thisbe sagt, sie will all diese alten Geschichten vergessen, Pyramus erwidert trocken, dass Geschichte doch nichts anderes als Heimweh sei. Kann sein.

I WANT TO FORGET THESE OLD STORIES. // HISTORY IS HOMESICKNESS.

„Kann sein“, sagt die Mauer angefasst weil perforiert inzwischen, womit niemand, nichtmal Shakespeare rechnen konnte. DIE ENDLICHKEIT DER FREIHEIT kam als Idee von Müller, Rebecca Horn und Jannis Kounellis während der 750-Jahrfeier Berlins, 1987, auf. Der Witz an der Sache ist, dass ebendieses Jubiläum schon zu Beginn der 1980er als Über-die-Mauer-hinweg-Feier geplant war, bizonal.

Gemeinsame Feier in Ost+West, Visum einerseits voraus-, Zwangsumtausch andererseits ausgesetzt, dazu kam es nicht, wie die Geschichte weiß, und Müllers, Horns, Kounellis‘ Doppelstadtfestival wurde am 1. September 1990 von zwei Bürgermeistern eröffnet. Ich erinnere mich, dass Momper (West) den Titel als „Ende der Freiheit“ ausssprach, was niemanden groß zu stören schien. Schwierzina (Ost) hatte sich vertreten lassen. Das war in der Zeit, als zusammenwachsen sollte, was zusammengehört. Von 11 beteiligten Künstlern war einer aus dem Osten.

Ich erinnere mich an aufgerissene Gräben im Straßenpflaster zwischen Gropiusbau und Abgeordnetenhaus. In den Gräben hatte einer der Künstler, der an der ENDLICHKEIT DER FREIHEIT arbeitete, ich glaube, Kabakov, Bretterwände aufgestellt und mit Stanniolpapier behängte Fäden aufgespannt, ähnlich wie sie später bald über allen ostberliner Baulücken wehten, in die Gebrauchtwagenmärkte für die kommenden Jahrzehnte einzogen. Man könnte sagen, dass die gesamte Gegend, das Grenzgebiet, zum Gebrauchtwagenmarkt wurde, dort wo später in der Leipziger Straße die tollen Clubs und Techno aufkamen und Ostretro erfunden wurde. Eine Grenzmarkierung aus Stanniolpapier, an der die Kunst nicht ganz unschuldig ist.

Zwischen damals und heute liegen mehr als dreißig Jahre, der durchschnittliche Generationenabstand. Nicht ganz so lang zurück liegt eines die Herzen der Stadt oder der Städte verbindendendes Verkehrsvorhaben. Da es sich um Schienenverkehr handelt, prähistorisch und utopisch nach wie vor zugleich. Die zwischen 1995 und 2000 durch die Leipziger Straße von Ost nach West verlegten Straßenbahngleise, die den Potsdamer Platz bis heute nicht erreicht haben, sind Reminiszenz an ein Vorkriegsberlin und Stillung eines schreienden Bedürfnisses nach vernunftbedingter Verkehrsplanung. Eine Narbe, die ein paar neuralgische Punkte miteinander verbindet, das Relikt einer Ausstellung aus dem letzten Jahrhundert.

Schlagwörter: