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Tag 35

In den Netzwerken ist alles weiß. Am Vormittag des 3.1. hat der ersehnte so seltene Berliner Schnee die Dächer und die Fensterbretter, das vorgestrige Silvesterfeuerwerk, die gerupften Weihnachtsbäume, Festtagstische und -dekorationen und sogar noch Straßen zart bedeckt. Bevor wir das vom Fenster aus sahen, sahen wir es auf Instagram, Facebook, WhatsApp und sogar im Newsletter der New York Times, der uns auch am Sonntag auf dem Laufenden hält. Und so rennen wir, der lang vermißten Schönheit, dem Zauber des Schneemärchens erliegend, über zwei Stufen springen die Treppen nach unten, schießen wie Erbsen durchs Blasrohr auf die Straße und kneten den nassen, schneebepuderten Schlamm … aber nicht hier, vor dem Haus, erst auf dem Friedhof gegenüber, wo der Boden zwischen den Grabsteinen kühl genug ist, um die zarte Armee von Schneemännern, Schneemännchen, geformt aus geschmolzenem Müsli, gemischt mit grünem Gras, gelben Blättern und immer noch rotorangenen Vogelbeeren, lang genug für eine Aufnahme, die wir umgehend auf Instagram und Facebook posten, zu dulden. Wir erfreuen uns an dieser unsrer kindlichen Freude, und naß, schmutzig, glücklich, gehen wir schon wieder nach Hause, denn anders als auf dem Friedhof war im Friedrichshain gegenüber schon alles zertrampelt und wegfotografiert. Ringsherum wuseln immer noch Kinder mit Schlitten, von ihren Eltern schnaufend über den Asphalt gezerrt, in der Hoffnung, wenigstens unter den Bäumen, zwischen den Straßenbahnschienen eine Schneekruste zu finden. Weil es da schöner, leichter, weil es richtiger ist. Ein Rätsel – dieser Schnee. Nicht nur für die Klimaforschung, die Kristallspezialisten. Für jeden, der an ein Märchen glaubt oder wenigstens an Mythologie. Im Schnee steckt, nicht auszulöschen, ein Märchen, alt wie die Menschheit, das ein kurzlebiges, einzigartiges Glück verspricht und die Illustration der Möglichkeit, das vergangene Leben zu tilgen und neu anzufangen. Natürlich, nur ein Trick, natürlich, nur eine Täuschung, die billigste, der schönste Aggregatzustand schmilzt schneller als die Illusion und hinterläßt nur einen Beigeschmack enttäuschter Hoffnung, auf die wir, wenn wir es uns eingestehen, mit schauriger Vorfreude genauso sehr gewartet haben wie auf, siehe oben, den Schnee.

In einer Notiz zu den „Passagen“ spricht Benjamin von Schnee als Trojanischem Pferd, der sich, wie das kommende Wachsein in den Traum schleicht. Der Schnee ist ein Verräter. Heute war er nur in den Winkeln der eng anliegenden Rückspiegel stehengebliebener Autos noch zu sehen.

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