Zum Inhalt springen

Tag 23

Fenster von Berlin (2)/

 

Zu Fenstern eine Geschichte, die ich zuerst von Heiner Müller gehört habe und Jahre später, mit einer Frage wiederholt, von Peter Voigt, dem Filmemacher. Als verschachtelte Anekdote, die sie ist, muß sie ausgerollt werden:

Im Dezember 1991, wir fuhren im Taxi zur Hanns-Eisler-Witwe Steffy, die in Pankow-Niederschönhausen in der Pfeilstraße einen einsamen Geburtstag feierte, jedenfalls waren keine Gäste mehr da, aber die Tische noch gedeckt, und Müller, der von einer harten Vertragsverhandlung mit der Brecht-Tochter Barbara kam, die Schlacht ums Berliner Ensemble stand bevor, es ging um Stückrechte an Brecht und sonst welche Rechte, Mitspracherechte, die neben Geld auch ein Recht an Zukunft beanspruchten, gewichtig wie eine Staatsgründung oder die Begründung einer Deutungshoheit, die ein Recht am Experiment einschließt, jedenfalls erzählte Müller, als wir aus dem Taxi stiegen und die warm hinterleuchteten Fenster in den Einfamilienhäusern sahen, auf die man kurz nach dem Mauerfall natürlich anders blickte als zuvor, es war kalt, verschneit und die Straßenlaternen schienen weniger grell als heute, dass er, Müller, als er mit Gerhart Eisler, Bruder von Hanns, dem Komponisten, irgendwo an einem Wintertag wie diesem über Pankow stand, was eigentlich nur in der Schönholzer Heide gewesen sein kann, weil nur von dort, oberhalb des Sowjetischen Ehrenmals, vom Hügel der alten Nazi-Thingstätte aus, wo die Eichen (sind es Eichen?) angeblich immer noch in Hakenkreuzformation stehen, was selbst von Hubschraubern aus kaum zu erkennen sein dürfte, der Draufblick auf die Einfamilienhäuser der sogenannten Intelligenz-, „Erich-Weinert-Siedlung“ offiziell, die für Künstler und Intellektuelle, die aus dem Exil zurückgekommen waren, nicht weit vom Majakowskiring, in dem die politische Elite, genaugenommen die Regierung, wohnte, gebaut worden waren, jedenfalls die Vielfenstersicht war nur von dort zu haben, wo Eisler mit Müller oder irgendwem, der es dann Müller erzählt hat, stand, und mit Blick auf die erhellten Nachkriegsfenster von 1960 herum meinte: „Überall wo Licht ist, da sitzt jemand, der uns die Gurgel durchschneiden will.“ Das wären dann entweder Altnazis oder neue Unzufriedene oder Unterdrückte oder heimliche Antikommunisten gewesen, jedenfalls Gegner. Und das fällt mir jedesmal ein, wenn ich nachts Häuser mit hellen Fenstern sehe, egal wo. Hinter jedem Fenster sitzt einer, der ein Gegner sein kann. Ein Gedanke, der sich zu gern mit dem Neid auf die hinter den Fenstern oft zu erkennende Eingerichtetheit verbindet.

Ich habe die Geschichte nach Müller noch zweimal, von Filmleuten gehört. Einmal von Harun Farocki nach seinem Umzug vom Westen in die Pfarrstraße am Ostkreuz, und von Peter Voigt, der mich mit der Erzählung zugleich nach deren Urheber fragte, ob ich vielleicht eine verbindliche Quelle wüßte. Wußte ich nicht und weiß bis heute keine. Sie stimmt, so oder so, nicht nur für den Propagandisten Gerhart Eisler, nicht nur für Heiner Müller, der das Material verbreitet hat; sie stimmt nicht nur für die Generationen, die den Krieg, Exil und den Nachkrieg erlebt haben, sie stimmt auch für die postsozialistischen, posttotalitären, für jede, die in nachts leuchtende Fenster sieht, in einer Zeit vor allem, in der Augen in Menschengesichtern über Masken hinblicken, die wie Mauern Mimik nur erahnen lassen.

Die Anekdote, die, kaum hat man sie erzählt, schon wieder kleistische Ferne hat, könnte man wie eine indianische Luftbestattung in eine Lederhaut wickeln, an den drei Totempfählen Brecht, Benjamin und Müller aufspannen, und die Grabbeigabe könnte eine Anmerkung von Benjamin zum Problem des Erzählens sein: „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, daß sie einen neuen Tiefstand erreicht hat, daß nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. (…) Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“

Schlagwörter: