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Tag 22

Schloß im Himmel (3)/

 

Es kann kein Zufall sein, daß Kafka seine letzte große Erzählung vor dem Tod in Berlin geschrieben hat. „Der Bau“ erschien posthum im von Max Brod herausgegebenen Sammelband „Beim Bau der Chinesischen Mauer“. Dort enthalten ist auch ein Fragment dieses Titels, das Brod aus einem von Kafkas Notizbüchern heraustranskribiert hat; weitsichtig heißt es: „Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte werden; sorgfältigster Bau, Benützung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit.“

 

„Beim Bau der Chinesischen Mauer“ ist einer dieser, wie so viele, eigentlich alle, Texte Kafkas, die für kommende Diktaturen mehr geschrieben worden sind als für irgendeinen Zustand sonst, jedenfalls für den der totalen, totalistischen Verlassenheit. Wir kennen diesen Zustand als Entfremdung, der man, brechtmäßig, am bestem mit Verfremdung begegnet.

 

„Der Bau“ und „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ lesen wir als Komplementäre, die das sich selbst Einmauern wie das Ausmauern der anderen – Menschen, sozialer Umstände, gesellschaftlicher Verhältnisse, Zeit – als Komplex eines mehrfach gebrochenen Bewusstseins zeigen. Und weil das Bewußtsein, das private wie das kollektive und das historische erst recht, noch nie so vielfach gebrochen war wie heute, ist klar, dass wir an Kafka wie seit 100 Jahren schon nicht vorbeikommen. Ludwig Binswanger, aus der für Neutralität berühmten Schweiz stammender Psychoanalytiker hat „Missglücktes Dasein“ in drei Formen erkannt: Verstiegenheit, Verschrobenheit, und Manieriertheit. Alle drei treffen auf die Mauer und deren Psyche zu, das heißt natürlich auch auf die Psyche ihrer Baumeister, und ebenso die ihrer Verwerter (dazu später hier mehr).

 

Als ich 1990 West-Berlin das erstemal betrat, hatte ich Kafka schon gelesen. Wenige Jahre vor dem Mauerfall war ein Reprint mit nachgelassener Prosa erschienen, das schon im Titel auf die Konterbande im Innern verwies. Mit „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ konnte kaum anderes gemeint sein als eben „die Mauer“, die beim Begriff selber nicht zu nennen war. Sie ging ausschließlich in Metaphern durchs Land, als Schutzwall, antifaschistisch, als Grenzsicherungsanlage, und war das zweifelsfrei auch, aber dem ordinären Fakt hielt sie nicht stand. Sie drohte immer schon am Fingerzeig zu zerfallen. Das politische Initiativprojekt, und für die Imagination der Aus- wie Eingesperrten zugleich innovative Bauwerk, ist – darauf zu insistieren lohnt sich auf mindestens eine weitere Generation hinaus – ganz ähnlich den parabolischen in Prosa gemauerten Bauwerken Kafkas nicht nur ebenbürtig, vor allem anderen auch, und hier mit Beuys gesprochen: Kunst als Bau. Beziehungsweise Bau als Kunst. Etwas, das von der ideologischen Stellung her mithin ein Tempel war, hier ausgerollt als Wall. Ein Band, das sich Jahrzehnte nach der Grundsteinlegung, Jahrzehnte nach der Schleifung immer noch als Klettband von fast überirdischer Haftung erweist. Vielleicht hätte die von Beuys geforderte Erhöhung der Mauer um zwei bis fünf Zentimeter dann dazu beigetragen, dieses auratische Bauwerk noch etwas länger in tatsächlicher Existenz, also der Realität zu halten, und wir hätten sie wenigstens als Denkmal noch.

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