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Tag 123

Ich fahre mit dem Rad bergauf an der rostbraun gestrichenen Front eines kilometerlangen Gebäudes entlang, Kulturpalast, Einkaufspassage, ich weiß es nicht, die Stadt, durch die ich fahre, ist mir unbekannt. Mir entgegen kommen andere Radfahrer; wieder andere, die mich überholen, sind Beweis, dass ich kein Geisterfahrer bin oder nicht der einzige. Der Radweg muss zweispurig ausgelegt sein, Gleise einer Straßenbahn und ein Fußgängerweg mit Blumenrabatten gehören, wie ich jetzt entdecke, dazu, die endlose Kolonne der Fahrzeuge in beiden Richtungen auf den sechs Spuren der Straße zieht in nicht nachlassendem Tempo vorbei. Die Menge strömt durch die offenstehenden Türen des Gebäudes, raus-rein, für Stillstand ist hier kein Ort vorgesehen.

Weiter an der Front des Gebäudes, keine Türen mehr, jetzt nur noch Wand und Plakate, die für den Krieg werben: KRIEG FÜR DIE FAMILIE – FAMILIE FÜR DEN KRIEG steht in mehr als einer Sprache auf grellbunte Plakate gedruckt. Mir entgegen kommen Mutter, Vater, Kind auf Rädern. Die Eltern zuerst, dann das Kind, ein Mädchen, klein, keine fünf Jahre alt. Von seinem Rad sieht es zu mir auf, seine übergroßen wie ein Konzentrat des strahlenden Sommerhimmels blauen Augen starren mich an. Ich fahre vorbei, ihr Kopf dreht sich mir nach, ich sehe, dass sie langsamer fährt und den Blick nicht lässt von mir. Pass auf, denke ich, dreh den Kopf, sieh nach vorn, achte auf den Verkehr, denke ich und rufe, aber ich habe keine Stimme mehr oder der Lärm der Massen schluckt meine Stimme.

Das Kind fährt weiter, noch immer mit dem Kopf nach hinten, in inzwischen übernatürlicher Drehung. Der Verkehr auf dem Radweg zwingt mich weiterzufahren, nach links oder rechts auszuscheren, unmöglich. In einer Kurve drehe ich mich ein letztes Mal um, ich hebe die Hand, winke dem Mädchen, dessen weiß wie ein Fleck im Bild wehender Rock den Verkehr überstrahlt. Sie kann auf die Distanz mein Winken unmöglich erkennen, aber sie winkt, warum kann ich es sehen, dass ihr erhobener linker Arm Abbiegen anzeigt, warum dass sie links über die große Kreuzung in den Verkehr rollt, wie lang braucht das Geräusch des Aufpralls zu mir.

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