Zum Inhalt springen

Tag 108

Nach Hamburg //

Am Montag sind wir nach Hamburg gefahren. Es ist einfach so passiert, zufällig fast, die Art wie. Wir mussten geschäftlich, zu Studienzwecken, kunsttheoretisch, nach Hamburg … wir unterrichten dort, und wir mussten auf Tour, um an der Fakultät für Design an der Hochschule für so und so Wissenschaften Vorlesung zu halten …

Wir halten seit März Vorlesungen vor schwarzen Quadraten, manchmal mit Gesichtern gefüllt, sonst mit Namen, und wollten, diesmal in echt, die Studenten ansprechen, Format, Aussehen, Gestik, Mimik (soweit sichtbar hinter den Masken) statt in die Kacheln mit Namen und Zahlen zuhause auf dem Monitor zu reden.

 

Nach Hamburg … nach Hamburg kommst du mit der Bahn, normalerweise. Es ist nicht das Jahr 32 – noch nicht und nicht mehr –, als Fliegende-Hamburger-Expresse die Strecke vom Lehrter Bahnhof, heute Haupt-, in zwei Stunden hinlegten. Heute sind es um die drei. Wenn du Glück hast, um die drei. Spielt ja keine Rolle eigentlich, sind ja nicht sibirische Weiten, Hamburg bei Berlin, sagt meine Frau …

doch im zweiten Jahr unter coronaren Konditionen eine Hamburger Vorlesung von Berlin aus zu starten, bedarf es Selbstverachtung, Risikoüberbereitschaft und ein möglichst vollkommenes Überschätzungsvermögen der eigenen Geduldpotenziale. Um nicht fünf Uhr früh losfahren zu müssen, um Zeit zu haben, den jüngsten Sohn zur Schule zu bringen, um Zeit zu haben, nicht zu spät zu kommen, findet man … keinen Zug. Nur den grünen, meint die größere Tochter, den …

der als Bus begonnen hat und auch als Zug überschaubare Strecken befährt. Hamburg zum Beispiel. Von Berlin aus, meint das reisende Kind, fährt er mit vier grün beklebten Waggons in nicht genau bestimmter Tiefe des Hauptbahnhofs vor. „Erkundige dich an den Anzeigetafeln am Bahnhof von welchem Bahnsteig dein Zug abfährt“, steht auf den Tickets … soll niemand kann sagen, wir hättens nicht versucht.

Alle Züge stehen da, wo steht, dass sie stehen, außer unserm, der auch auf keiner Tafel steht. Die Zeit rennt. Wir rennen auch. Unten im Keller, auf Gleis 8, dem Gleis mit dem Rücken zur Wand, rollt die Lok spacegrau mit dem werbetechnisch clevergrünen Appendix ein. Nur fünf Minuten Verspätung. Klein, der Zug, wie ein Spielzeug, gepresst zu nur drei Waggons. Der Lokführer, Wollmütze, Gesichtstattoo, sieht, ins Schiebefenster geklemmt melancholisch auf die Trupps auf der Plattform, denen selbst nicht klar zu sein scheint, ob sie bei ihm einsteigen oder …

Schaffner gibt es keinen, Schaffner ist er selber. Für uns bedeutet das nichts, das ist der Musterzug nach Köln, halbleer fährt er ab. Wir winken. Das Tattoo, cool, nickt zurück … nach Hamburg wird von der andern Seite abgefahren, sagt die leuchtende Tafel am Ende des Bahnsteigs, die andern leuchten nicht.

Nach Hamburg kam dann doch, nochmal die gewöhnlichen Minuten später. Reichsbahn, sagt mein Mann. Sowjetisch, denke ich. Im Zug ist alles klein, modellhaft irgendwie verschoben klein, Maßstab 1,5  : 1, die Waggons, woher immer sie kommen, entkernt, ästhetisch Reisebüro, mit Holzfototapete beschlagene Stirnseiten, jedenfalls nicht klassisch Zug (klar, klassisch, was soll das, klassisch ist Bestattungsinstitut) … der Bahnsteig rollt ab … raus aus dem Tunnel, Tageslicht, Dezember, grau, nach Grau kommt Spandau …

Nach Hamburg. Durch die rumpelnden Waggons führt zwischen Doppelsitzschalen ein schmaler Pfad nach Hamburg, den man besser zu Fuß zurücklegt, die Sitze, haltungsfeindlich enger beieinander als … mir fehlt der Vergleich, Raumkapsel sagt meine Frau. Die Leute mit Koffern auf der Suche nach ihren Plätzen („Ganz einfach nach der Nummer am Handgepäckfach suchen, hinsetzen und die Fahrt genießen“) bilden im Gang ein Gewebe, ein Knäuel, einen Zopf, der als Performance Größe hat, und Dichte. Keuchen, Stöhnen, Stillstand, Schweiß, fallende Masken …

vor Spandau wird sich das nicht lösen. Ein grüngrauer Mensch vom Personal in Maske, graugrün, taucht auf, winkt ab und verschwindet. Wir fahren. Nach Spandau müsste Hamburg kommen.

Es ist kalt, kein Fenster offen, aber die Heizung … gibt vielleicht keine. Die nächstgelegene Toilette funktioniert nicht, die andere am Ende des Wagens ist für Personal reserviert. Auf dem Weg dorthin trittst du auf Beine, auf Taschen, einen Hund, den du überlisten oder wegkicken musst, weil der noch in seiner kleinsten Größe den Gang verstopft wie ein … Hund …

Der kleine Zug schnappt und wippt nervös wie ein Junkie … ich war noch nie in Hamburg. Mein Mann sagt, er liebt Hamburg. Nachdem es dann doch nur zweieinhalb wie im Albtraum verflogene Stunden gebraucht hat …

stiegen wir aus, fanden die Uni, kamen zurück am Nachmittag, immer noch Hamburg, Hauptbahnhof wieder … „Erkundige dich an den Anzeigetafeln am Bahnhof von welchem Gleis dein Zug abfährt.“ Soll keiner sagen, wir hättens nicht versucht.

Schlagwörter: