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Tag 10

Benjamin zeichnet in den Notizen zum Passagen-Komplex Baudelaire als den Melancholiker, den sein Stern immer in die Ferne weist. Die Bilder der Ferne erscheinen in seiner Dichtung als Inseln, die aus dem Meer der Vorvergangenheit auftauchen oder aus dem Smog von Paris. Das Phänomen in den coronahaltigen Novembernebel Berlins übertragen ist etwas, das wir mit Benjamin den V-Effekt großstädtischer Poesie nennen könnten. Baudelaire entwirft die Szene für das Skript, das Rimbaud durchspielen und ihn nach Afrika katapultieren wird, in den Sand unterm Asphaltpflaster, wie ihn die situationistische Bewegung später labeln wird. Rimbauds « théâtre de la ville » kategorisiert die urbane Szene, die mit Baudelaire überhaupt erst in der Poesie auftritt, weniger als eine Bühne denn als Drama. Dessen Bühnenbild ist überall: innen, außen, und manchmal krempeln sich die Ärmel um, drängen sich die Interieurs nach draußen. So wie das Private zunehmend auf die Straße spült, die intime Befindlichkeit nicht nur über Mode in Bekleidung, Lettering, Tattoo, Piercing, in Dialogen oder Monologen übers Telefon ausgestellt wird, spült gerade in der Zeit der Pandemie der innerste Besitzstand auf die Straße, als Ballast. Er bildet Inseln. Nicht Wohninseln – doch, auch das –, er bildet Szenen. Ein dialektisches Bild in der Zeit des erzwungenen Zuhausebleibens.

Nebenbei: Benjamins vielleicht größtes Verdienst ist es, uns zu zeigen, daß Lesen so wichtig ist wie Schreiben, daß wir als Lesende Autoren sind. Und er zeigt es als erster in der ganzen Konsequenz. Diese Konsequenz ist die erste Erscheinung der Postmoderne. Daß eins ohne das andere, Schreiben ohne Lesen nicht geht, wissen wir, seit der Buchdruck existiert. Daß Lektüre als Wissenschaft des Geschriebenen, auch des unmittelbar Geschriebenen, von gleichem Wert sein kann und  Schreiben als Geschichte überliefert, hat er als erster klargemacht.

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