Zum Inhalt springen

Mutter Heimat

Thomas Martin

Wenn alle drinnen sitzen, sitzt sie draußen. Und das, soweit ich mich erinnern kann, seit … ich kann nur ein Jahr ungefähr schätzen. Sie lebt auf der Greifswalder Straße in den jeweils freien Nischen verlassener Geschäfte. Die Straße ist lang und sie wohnt dort. Die Winter sind warm, aber es sind immer noch Winter.

Inzwischen hat sie sich auf der Straßenecke gegenüber eingerichtet, ihren Haushalt dazu. Sie lebt dort tags, nachts, manchmal läßt sie den Haushalt, im Einkaufswagen in Müllsäcke verpackt, zurück und hält sich anderswo auf. Wo, ist nicht zu sagen. Manchmal scheint sie nur verschwunden, dann liegt sie eingerollt zwischen Tüten und Säcken, die Einrichtung von einer blauen Plane überzogen. Manchmal wandert sie die Straße ab, sammelt Unrat vom Bürgersteig ein, und bringt ihn zum Papierkorb an der Ecke. Wenn der Papierkorb in der Fachsprache, wie Laterne, Pumpe und Parkautomat, das Stadtmöbel ist, muß sie die Bewohnerin sein.

Was macht sie? Sieht aus wie eine Plastik von Barlach, lebt wie eine Figurine von Gorki unter uns, unberührbar. Sie will nichts, im Gegenteil, sie gibt. Aber was? Gibt sie Wechselgeld aus, Drogen? Sitzt als kritische Gegenwart auf der Schaufensterbank, wie arrangiert vor brüllenden Graffitis. Manchmal spricht sie, lehnt an ihrem Wagen wie die Marketenderin von Brecht und unterhält sich mit Passanten. Manchmal teilt sie Süßes aus an Kinder. Manchmal fragt sie nach der Zeit. Manchmal tanzt sie auf der Stelle, damit die Beine nicht einschlafen. Manchmal breitet sie die Schwingen ihres Kapuzenmantels aus, der Spuren früherer Eleganz aufweist, oft steht sie regungslos. Eine Nonne, ein Wachsoldat, eine Krähe. Ein Mensch, der eine Stelle als Stadt bevorzugt und nur diese. Nie in der Sonne, immer im Schatten. Was macht sie? Sie lacht.

Und warum hier? „Warum nicht. Alex ist überbucht, da liegen sie im Dutzend, Ruhe hast du keine im Daueralarm. Die Bullen und die Krankenwagen, die Touristen und die Randale, Prügel, Musik. Hier ist Ruhe.“ Der Berufsverkehr, die M4? „Bißchen was muß, soll ja nicht langweilig sein.“

Walter Benjamins Passagen-Erkenntnis, daß es, solang es noch einen Bettler, auch einen Mythos geben wird, verkörpert sie. Sie ist der Komplementär zum Hauptstadtflaneur. Möglicherweise ist sie belesen. Möglicherweise ist sie kälteresistent. Resistent gegen Regen, Hunger, Mitleid, Trends, das Leben. Sie ist die rätselhafteste Figur der Großstadtpersonage. Und sie ist eine nur von Tausenden, von denen jeder eine Stellung hält, die nicht dem Lokalkolorit dient, sondern tiefere Gründe hat, oft den der Resistenz gegen alles Gebundene. Wir müssen sie nicht verstehen, wir können nicht einmal Abhilfe schaffen. Sie lehnt sie ab.

Mobiles Wohnen, sagt sie selbst, und, erstaunlich, ohne jede Bitterkeit. Überhaupt scheint sie vom Temperament her eine der ausgeglichensten aller Mütter zu sein. Die Stadt, deren Laufklientel beständig zunimmt, deren unberechenbarer, gestörter, verwirrter und hilfloser Teil beständig zunimmt, hat in ihr ein Gegenteil gefunden. Mutter? Wer weiß, ob sie das ist, jung scheint sie zu sein, alt aber auch, zeitlos, wie Legenden eben sind. Wenn sie auch keine Mutter leiblicher Kinder sein mag, ist sie die Mutter der Straße. Keine Heilige, aber die Aura. Und immer mehr, die vorbeigehen, täuschen die Berührung an, vielleicht bringt sie Glück, wenn nicht, vielleicht Resistenz.