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Berliner Apoikíes

Steffen Greiner

Der Begriff „Metropole“ ist ein kolonialistischer. Er stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Mutterstadt“. Im Begriff stecken die Töchter: In der Antike ist eine Metropole jene Stadt, die als Konsequenz einer Krisenphase – Überbevölkerung, Nahrungsmittelknappheit, innere Zwiste – ihre Söhne aussendet, an neuen Ufern Tochterstädte zu gründen. Der Ursprung des Konzepts der Kolonie liegt in diesen Gründungen, die wenig mit dem neuzeitlichen Kolonialismus als Instrument imperialer Machtausdehnung gemein haben, wenn auch sie eine Geschichte von Verdrängungen, Vernichtungen und Identitätskonflikten erzählen, denn auch die Buchten, Halbinseln, fruchtbaren Weiden, an denen diese Städte entstehen, tauchen nicht, wie im Videospiel, ohne ihre Geschichte aus dem fog of war auf. Dennoch. Die griechischen Kolonien, Apoikia genannt, waren politisch unabhängige Gebilde, der Mutterstadt eher ideell verbunden, als die Blutmühlen der Neuzeit.

Wenn Berlin fraglos Metropole ist – was sind ihre Apoikíes? Kann man Berlin von dem Woanders lesen, das es prägt? Nicht vom Speckgürtel her, sondern von Wiesenburg und Bansin? Wie Paris aus dem Küstendorf Dosville das mondäne Deauville in der Nomandie macht, sein „XXIe arrondissement“, und eine britische Zugverbindung aus dem Fischerdorf Brighton ein „London by the Sea“ – so stellt sich die Frage, was die Orte sind, in denen das Berlin, das es sich leisten kann, sich selbst gespiegelt sehen will.

Vielleicht lassen sich auch die Berliner Kolonien nie besser erkennen als zur Urlaubszeit. Bei den Usedomer „Kaiserbädern“ liegt das Berlinerische auf der Hand. Das Seebad Bansin ist Gründung eines Berliner Hühneraugenoperateur aus dem Jahr 1897, der in Berlin tätige Schriftsteller Willibald Alexis soll das benachbarte Heringsdorf begründet haben.

Heute ist die Ostseeromantik beliebig. Ein Urlaub auf Usedom spricht auch die Mittelschicht westdeutscher Dörfer an. Berlin gefällt sich dieser Pandemie-Tage eher im Ultra-Regionalismus. Brandenburg erscheint zumindest weißen deutschsprachigen Berlinern gerade als großer Spielplatz, ein Paradies aus Natur, Naturgolf, Weite, Wald und See, mit dem dezenten Gruselfaktor des Ost-PVC im Imbiß und der Frau mit der Warnweste, die die Tür zum Gleis 3 öffnet, wenn der Zug einfährt. Die Faszination, dass irgendwo vor Angermünde vielleicht noch ein Nazi einsteigt, ehe Gerswalde, „Berlins 13. Bezirk“, als rettendes Ufer auf dem Bushalte-Display erscheint. Urlaub als koloniales Abenteuer, Brandenburg als dunkler Kontinent, dem das bisschen Verdrängung durch Berliner Lebensweise bisweilen gut tun würde – wenn es auch besser wäre, tatsächlich neu zu gründen: Platz ist, im Gegensatz zu allen bisherigen Kolonialismen, diesmal ja tatsächlich da.

Wer Berlin aber wirklich über seine Kolonien kennenlernen will, sollte nach Leipzig blicken, jene Stadt, die nicht nur seit Jahren als das „neue Berlin“ gilt, sondern tatsächlich die Rolle einnimmt, die die Apoikia Syrakus für die Metropole Korinth hatte: Hierhin zieht, wer die Nase voll hat von Mietenhype und Job-Konkurrenz. Was Berlin gerne noch immer wäre, dürfen Berliner hier ausleben: Irrsinn, Kreativität, Raum. Um nach drei Jahren billigen Wohnens und Werkelns wieder in den Heimathafen zurückzukehren, ganz wie die Heroen der Antike.


Steffen Greiner ist Co-Chefredakteur der Zeitschrift „Die Epilog“, kommt aus Saarbrücken, bleibt erstmal in Berlin.